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Dr André Härtel

Vom Kandidaten zum Mitglied: Ein sehr langer Weg

Am 24. Juni entschied der Europäische Rat der Ukraine und Moldau den Beitrittskandidatenstatus zu verleihen. Für die Ukraine, die bisher Teil der Östlichen Partnerschaft (ÖP, seit 2009) bzw. Nachbarschaftspolitik (ENP, seit 2004) war, ist der Wechsel von der Außen- in die Erweiterungspolitik der Union ein historischer politischer Erfolg.

  • Ukraine
NL 165 | Juli 2022
Außenhandel und regionale Integration
Governance und öffentliche Verwaltung

Er war nur möglich, da sich vor dem Hintergrund, der seit dem 24. Februar geführten Invasion Russlands ein wohl einmaliges moralisches und geopolitisches „Fenster“ geöffnet hatte. Dieses nutzten die ukrainische Regierung und Zivilgesellschaft in den Monaten seit dem Antrag mit einer professionellen Kampagne in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten. Der Kandidatenstatus erscheint allerdings als das Maximum dessen, was für die Ukraine derzeit erreichbar ist. Eine erfolgreiche Aufnahme von Beitrittsverhandlungen verlangt der Regierung in Kiew ein anspruchsvolles Paket beschleunigter Reformen ab. Dieses ist vor dem Hintergrund des Krieges und der bisher nachgewiesenen Reformkapazität der Zelenskyi-Präsidentschaft eine sehr hohe Hürde.

Sicherheit und Politisierung

Die Erteilung des Kandidatenstatus hat viele Beobachter der europäischen und ukrainischen Politik überrascht. In der Ukraine findet ein „totaler Krieg“ (Zelenskyi) statt, der die Sicherheit des Landes zum politischen Schwerpunkt macht. Darauf hat der Kandidatenstatus allerdings keinen Einfluss. Die EU ist auch für ihre jetzigen Mitglieder keine Sicherheitsgarantie und ein unterentwickelter sicherheitspolitischer Akteur. Die Frage muss gestellt werden, ob es der Ukraine vor dem Hintergrund des Krieges zuzumuten ist, Reformen zu beschleunigen und einen Beitrittsprozess umzusetzen, oder ob das politische Kapital auch der EU nicht beispielsweise besser in die Waffenlieferungsdiplomatie investiert werden sollte. Zudem entstand im Verlauf der letzten Wochen von ukrainischer Regierungs- und EU-Kommissionseite der Eindruck, als handele es sich bei der Ukraine um eine reformpolitische „Avantgarde“. Dies widerspricht der selektiven und aufschiebenden Reformperformanz ukrainischer Regierungen seit etwa Frühjahr 2016.

Politische Implikationen: verbesserte Konditionalität?

Die Ukraine ist kein typischer EU-Beitrittskandidat. Von der Dimension her wäre die Erweiterung nur mit der „big bang“-Erweiterung von 2004 oder mit der auf Eis liegenden, um die Türkei zu vergleichen. Weitere Kandidatenländer, beispielsweise Nordmazedonien, warten seit vielen Jahren auf Fortschritte in den Beitrittsverhandlungen. Diese Aspekte haben wesentlich zur Erweiterungsmüdigkeit insbesondere in den alten Mitgliedsstaaten beigetragen.

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Mit Russland gibt es einen klaren Gegner der Einbindung der Ukraine in regionale Integrationsprojekte. Die Ukraine ist zudem ein „vulnerabler“ Kandidat, da die Infrastrukturschäden bei über 100 Mrd. USD liegen und nicht absehbar ist, in welcher territorialen und politischen Verfassung das Land den Beitrittsprozess nach einem Friedensschluss beginnen kann. Normalerweise bedeutet der Anreiz einer Mitgliedschaft einen verbesserten Hebel der EU, progressiver Eliten und der Zivilgesellschaft zur Durchsetzung von Reformen. Im Fall der Ukraine, die schon jetzt ökonomisch stark abhängig von der EU ist, könnte sich dieser Zusammenhang intensiver auswirken als anderswo. Andererseits sprechen der geopolitische Hintergrund der Statusentscheidung, das jetzt erhebliche nationale und internationale Renommee Präsident Zelenskyis sowie der Krieg und eventuelle Wiederaufbau als staatliche Prioritäten gegen diese Logik.

Ökonomische Implikationen: Wiederaufbauhilfe

Obwohl viele Betriebe wie ArcelorMittal ihre Arbeit zuletzt wieder aufgenommen haben, sind Wirtschaftsleistung (etwa -30% 2022) und Steuereinnahmen (-30% im März/April zum Vorjahresmonat) nachhaltig eingebrochen – die Ukraine wird auf absehbare Zeit monatliche Budgethilfe in Milliardenhöhe benötigen. Das Land verändert sich wie schon in 2014/15 durch den Krieg als Volkswirtschaft zudem nachhaltig. Die Ukraine wird sich, selbst bei Gebietsrückeroberungen, weiter deindustrialisieren und könnte große Teile der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen einbüßen. Sollte der Krieg noch bis ins nächste Jahr anhalten werden viele Hochqualifizierte nicht mehr zurückkehren. Für Herausforderungen dieser Art ist der Beitrittsprozess nicht konzipiert worden. Die Mittel aus dem Instrument für Heranführungshilfe (IPA) der EU (14,2 Mrd. EUR 2021-2027 für alle Kandidaten) sind hierfür zu gering und auch anders angelegt. Wichtig ist der Kandidatenstatus hier eher aus einer anderen Perspektive: Die EU hat eine Mitverantwortung für das Überleben der ukrainischen Volkswirtschaft und für ihre langfristige Konvergenz mit den EU-Volkswirtschaften übernommen. Dies weist ihr eine zentrale Rolle bei Budgethilfen, kurzfristigen, pragmatischen Erleichterungen (z. B. beim Zoll), kreativen logistischen Lösungen (z.B. beim Getreideexport) wie auch bei der Konzeption und Umsetzung des Wiederaufbaus zu.

Kurz- und mittelfristige politische Prioritäten

Die ukrainische Führung und Zivilgesellschaft müssen verstehen, dass sie in punkto EU-Integration für den Moment das maximal Mögliche erreicht haben. Der Kandidatenstatus hat das Land auf ein Plateau gehoben, von dem man zunächst einmal nicht mehr zurückfallen kann. Der weitere Weg wird allerdings sehr steinig sein, da ein beschleunigtes Beitrittsverfahren nicht in den Verträgen vorgesehen ist und der Einigungswillen der 27 Mitgliedstaaten in Bezug auf die Ukraine erst einmal ausgeschöpft scheint. Zudem hat die Ukraine einen Krieg zu gewinnen – ein Ziel, bei dem der Kandidatenstatus wenig hilft. Die kurzfristigen integrationspolitischen Prioritäten sollten daher folgende sein:

• Die ukrainische Regierung muss ihr Möglichstes tun, um die langfristige Reformagenda vor den Folgen des Krieges zu schützen und ein demokratisches „roll-back“ zu vermeiden. Ein negatives Beispiel ist die erst kurz vor der Invasion in die Wege geleitete Reform des politisierten, intransparenten und zu mächtigen Inlandsgeheimdienstes SBU. Nach dem Willen einiger auch dem präsidentiellen Lager angehörender Politiker soll der Dienst nun noch weiter ermächtigt werden;
• Weiter sollte sie die Empfehlungen der Kommission zu ihrer Entscheidung zur Verleihung des Kandidatenstatus zügig umsetzen, wobei der dafür vorgegebene Zeitraum aufgrund des Krieges wohl zu ambitioniert ist. Zu empfehlen ist eine Konzentration insbesondere auf die entschiedene Stärkung der Unabhängigkeit der nach 2014 neu geschaffenen Behörden im Justiz- und speziell im Antikorruptionsbereich;
• Alle mit der EU-Integration befassten ukrainischen Akteure sollten wieder zur pragmatischen und sektorspezifischen Zusammenarbeit mit der EU zurückkehren, die das Verhältnis etwa seit Abschluss des Assoziierungsabkommens in 2014 ausgezeichnet hat. Die angesichts der Invasion verständliche Haltung, auf moralische und geopolitische Argumente zu setzen ist mit dem Kandidatenstatus ausgereizt. Der Beitrittsprozess ist vor allem ein technischlegaler Prozess, der neben politischem Willen ein höchst professionelles bürokratisches Management und langfristiges Denken erfordert.

Zusammenfassung und Ausblick

Der an die Ukraine verliehene Kandidatenstatus ist ein Durchbruch für die ambitionierte Außenpolitik der postrevolutionären Ukraine. Diese hatte die zukünftige Mitgliedschaft in EU und NATO 2019 in den Verfassungsrang erhoben. Wie die Erfahrung mit den Westbalkan-Staaten und der Türkei zeigt, ist der Status eines Beitrittskandidaten aber nicht gleichbedeutend mit einer garantierten Aufnahme von Beitrittsgesprächen bzw. mit einer zukünftigen Mitgliedschaft. Im ukrainischen Fall ist dies offensichtlich. Der Kriegskontext und der existentielle Kampf der Ukrainer um ihre Staatlichkeit könnten den Kandidatenstatus im worst case in einen Pyrrhussieg verwandeln. Auch haben die angesichts des Angriffskrieges gegen das Land sehr pro-ukrainische öffentliche Meinung in der EU und die erweiterungsfreundliche Position der EU-Kommission zuletzt wichtige Tatsachen überlagert. Zum einen hatte der für eine zukünftige Mitgliedschaft ausschlaggebende Reformprozess in der Ukraine vor der Invasion deutlich an Tempo verloren. Zum anderen ist ein EU-Beitrittsverfahren vor allem ein bewusst langfristig angelegter technisch-legaler Prozess, der anstatt normativer und geopolitischer Fragen vor allem die politische und ökonomische Kohäsion der Union im Blick behalten muss.

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