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Dr. Stefan Meister

Die EU eröffnet Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine

Für die Ukraine standen zwei wichtige Entscheidungen im Europäischen Rat am 14./15. Dezember an: Die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen sowie ein Finanzierungspaket von 50 Mrd. EUR, das das ökonomische Überleben absichern soll. Nach zähem Ringen mit dem ungarischen Premier Viktor Orban hat der Europäische Rat beschlossen, die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu eröffnen. Ungarn blockiert jedoch weiterhin das Finanzierungspaket. Damit gehen die EU-Mitgliedsstaaten den nächsten Schritt in der Erweiterungspolitik, der vor allem einen symbolischen Wert darstellt und erst nach Überprüfung von Fortschritten im März, bei den von der Europäischen Kommission (EK) formulierten sieben Prioritäten, starten wird. Trotz dieses wichtigen Signals ist für die Ukraine die Sicherstellung der Finanzierung aktuell für das wirtschaftliche und militärische Überleben wichtiger.

  • Ukraine
NL 182 | Dezember 2023
Politische Analyse
EK schlägt Beitrittsverhandlungen vor  

Vorausgegangen war eine Empfehlung der EK am 8. November. Diese verdeutlicht nochmal, die fundamentalen Veränderungen, die mit dem russischen Angriffskrieg einhergehen. Dabei spielen geopolitische Erwägungen eine wesentliche Rolle. Die EK schlägt vor, die Beitrittsverhandlungen neben der Ukraine mit Moldau und Bosnien-Herzegowina zu eröffnen sowie Georgien einen Kandidatenstatus zu verleihen. Außerdem empfiehlt die EK die Unterstützung im Rahmen eines mehrjährigen Finanzierungsplans (Ukraine Facility) von 50 Mrd. EUR in Krediten und Zuwendungen für 2024 bis 2027 – ein wichtiges Signal in Zeiten militärischer Rückschläge und Unklarheiten über finanzielle Zusagen aus Washington. Dieser Vorschlag ist mit zusätzlichen Bedingungen zur technischen Erweiterungskonditionalität verbunden. Dazu zählen Kernfragen wie Rechtsstaatlichkeit, Verwaltungsreform und Wahlrecht. Diese wurden bereits im Juni 2022 mit sieben Prioritäten bis zum Beginn des Erweiterungsprozesses durch die EK definiert. Vier wurden laut dem Bericht vollständig erfüllt:

  • die Annahme der Rechtsprechung zur Ernennung von Richtern am Verfassungsgericht
  • die Überprüfung der Integrität von Richtern des hohen Gerichtes
  • die Anti-Geldwäschegesetzgebung
  • Anpassung der Mediengesetzgebung

Bisher nicht vollständig umgesetzt sind:

  • Schritte im Bereich Korruptionsbekämpfung
  • Deoligarchisierung
  • der Schutz nationaler Minderheiten.

Diese werden in einem Bericht der EK im März 2024 erneut bewertet. Von der EU erwartet wird die Ernennung eines neuen Leiters der spezialisierten Antikorruptionsstaatsanwaltschaft und des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU), ein Gesetz zur Aufstockung dessen Personals sowie die Aufhebung von Beschränkungen für die Nationale Agentur zur Korruptionsprävention bei der Überprüfung von Vermögenswerten und Eigentum. Weiterhin sollte ein Gesetz gegen Lobbyismus verabschiedet werden, das den Einfluss von Oligarchen beschränkt. Sobald die Ukraine diese Reformen durchgeführt hat, wird die EK dem Rat empfehlen, einen Verhandlungsrahmen anzunehmen. Mit diesem Schritt beginnen die Verhandlungen. Diese sind in 35 Kapitel und sechs Cluster unterteilt, die die Implementierung des EU-Rechts („Acquis“) als Ziel verfolgen. Der Rechtsrahmen sind die Kopenhagener Kriterien. Dazu gehören (Link):

  • Politisch: u.a. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
  • Wirtschaftlich: u.a. Marktwirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit
  • Fähigkeit, die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen erfüllen zu können

Basierend auf Berichten der EK, die Emerson und Blockmans quantifizierten (Link), ist die Ukraine im politischen Bereich auf moderaten bis guten Niveau bei der Vorbereitung, in der wirtschaftlichen Angleichung jedoch darunter.

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Verhandlungsmasse für politische Reformen

Für die Umsetzung fundamentaler Reformen in diesen Bereichen fehlte in der Vergangenheit jedoch der ukrainischen Führung politische Wille. Mit dem russischen Angriffskrieg und der gewachsenen Abhängigkeit des Landes von Waffenlieferungen und finanzieller Unterstützung, hat die EU mehr Druckmittel, um einen politischen Durchbruch zu erreichen. Vertreter der ukrainischen Zivilgesellschaft und Expertengemeinschaft fordern ein konsequentes Festhalten an Normen und Prinzipien für den EU-Beitritt insbesondere in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Verwaltungsreform, da die politischen Widerstandskräfte hier weiterhin groß sind. Die Diskussion, der Regierung aus geopolitischen Gründen entgegenzukommen, erscheint nicht nur mit Blick auf die Glaubwürdigkeit des Beitrittsprozesses problematisch, sondern kontraproduktiv vor dem Hintergrund einer politischen Kultur, die weiterhin nur auf Druck echte politische Reformschritte macht. In den Beschlüssen des Rates wird nochmal betont, dass Reformen im Bereich Rechtsstaatlichkeit zentral für die EU-Erweiterung sind und nur ein leistungsbasierter Integrationsprozess erfolgen kann. Das ist auch eine Reaktion auf die Kritik der Mitgliedsstaaten, die einen zu schnellen Beitritt der Ukraine ablehnen und vor voreiligen Zugeständnissen warnen. Hier steht Ungarn als Hauptkritiker des Beitrittsprozesses nicht alleine. Gleichzeitig macht der Rat nochmal deutlich, dass die EU innere Reformen braucht, um den Erweiterungsprozess voran zu treiben.

Haushaltsfinanzierung ist entscheidend

Die Entscheidung den Beitrittsprozess tatsächlich zu starten, werden das Land selbst und die EU verändern. Größte Herausforderung dabei ist der andauernde Krieg. Der russische Präsident hat auf seiner jährlichen Pressekonferenz kürzlich nochmal deutlich gemacht, dass er mit einem längeren Krieg plant. Für die Ukraine ist entscheidend, dass ihre Finanzierung mittel- bis langfristig abgesichert wird. Die Finanzierungslücke des Haushaltes wird vom IWF auf etwa 73 Mrd. EUR zwischen 2024 und 2027 geschätzt. Dabei erwarten die USA, dass Europa einen großen Teil der zukünftigen Kosten tragen wird. Das blockierte mehrjährige Finanzierungspaket soll ebenso wie die Neuverhandlung des gemeinsamen EU-Haushalts in einer außerordentlichen Sitzung des Europäischen Rates am 1. Februar 2024 erneut verhandelt werden. Hier hat neben Ungarn auch Italien bereits Widerstand angekündigt. Alternativ können die Mitgliedsstaaten auch individuell der Ukraine das Finanzierungspaket zusagen, um ein Veto zu umgehen. Entscheidungen zur Ukraine werden zunehmend zu Verhandlungsmasse zwischen den Mitgliedsstaaten, um Vorteile für sich herauszuschlagen. Dabei werden knappe Haushalte in vielen Mitgliedsstaaten nicht nur zu einem Verteilungskonflikt zwischen, sondern auch innerhalb der Mitgliedsstaaten führen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat bereits angekündigt, dass er das 50 Mrd. EUR Paket unterstützt, aber ansonsten keine Spielräume für eine Aufstockung des EU-Haushalts sieht.

2024 wird ein schwieriges Jahr für die Ukraine

Die 2024 anstehenden Europawahlen, wo aller Voraussicht rechtpopulistische Parteien an Einfluss gewinnen werden, sowie die Bestimmung einer neuen EK, könnte, die EU für Monate lähmen. Sollte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wiedergewählt werden, wäre das eine positive Nachricht für die Ukraine, da sie als Unterstützerin eines Beitrittsprozesses gilt und eine schnelle Arbeitsfähigkeit der EK garantieren kann. Der Druck auf die EU aus Washington wird mit den Präsidentschaftswahlen im November 2024 weiterwachsen. Für die Ukraine ist dieser Prozess sowohl Motivation als auch Belastung. Die Zentralisierung von Entscheidungen durch den Krieg schwächt die lokale Selbstverwaltung, und das Fehlen von personellen Kapazitäten kann bei anhaltendem Krieg zu einem Nachlassen im Reformprozess führen. Hier ist es vor allem die Zivilgesellschaft, die Expertise und Kapazitäten für den Erweiterungsprozess zur Verfügung stellt. Die nachlassende finanzielle und militärische Unterstützung durch den Westen kombiniert mit einem längeren Krieg wird in der Ukraine zunehmend zu einer Abwägung und Priorisierung bei der Verwendung von finanziellen Mitteln und Personal führen. Das kann auch Einfluss auf die Fortschritte im Beitrittsprozess und auf die Verteidigungsfähigkeit haben.

Ausblick

Die Entscheidung des Europäischen Rates hat eine enorme symbolische Bedeutung für die Ukraine und reicht für die EU mit Blick auf ihre geostrategische Relevanz über das Ende des russischen Angriffskrieges hinaus. Der Prozess wird nicht nur das Land selbst, sondern auch die EU in den nächsten Jahren verändern. Je länger der Krieg andauert, umso mehr Ressourcen wird die Ukraine für das wirtschaftliche und militärische Überleben brauchen. Es ist davon auszugehen, dass das nächste Europaparlament weniger konstruktiv gegenüber der Ukraine auftritt und die Verteilungskämpfe zwischen den Mitgliedsstaaten um die Finanzierung der Ukraine zunehmen werden. Für die Ukraine würde diese Entwicklung zu einer zusätzlichen Herausforderung. Die Absicherung der Finanzierung und der militärischen Unterstützung haben aktuell absolute Priorität.

Dr. Stefan Meister ist Leiter des Zentrums für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Hinweis: Für diesen Text ist nur der Autor verantwortlich.
Er gibt nicht notwendigerweise die Meinung des German
Economic Team wider.

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