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Sebastian Staske

Zuzug aus Russland und Belarus: weiter zentral für die Wirtschaft

Im vergangenen Jahr sind ca. 100.000 Menschen aus Russland und Belarus aufgrund des Krieges in der Ukraine nach Georgien gezogen. Das German Economic Team führte eine zweite Befragung dieser Gruppe durch. Die Umfrage schließt auch die zweite Migrationswelle, nach der Ankündigung der Teilmobilisierung in Russland, ein. Die Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Welle sind weniger stark als ursprünglich erwartet. Die hohen durchschnittlichen Konsumausgaben machen die Zugezogenen zu einem zentralen Wirtschaftsfaktor.

  • Georgien
NL 51 | März - April 2023
Arbeitsmarkt und Migration

Wir schätzen, dass der Zuzug 2022 zusätzliche Konsumausgaben in Höhe von 2,0% des BIP bewirkt hat, die dieses Jahr 3,2% des BIP erreichen könnten. Der Zuzug ist somit ein positiver kurzfristiger Schock für das BIP. Viele Erwerbstätige sind in der IT-Branche tätig, sodass der Zuzug zur Entwicklung des Sektors beitragen könnte. Es gibt aber auch Abwärtsrisiken im Falle einer Umkehrung der Migrationsströme.

Zuzug von ca. 100.000 Menschen im Jahr 2022

Als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine und den Sanktionen gegen Russland und Belarus gab es einen starken Zuzug von Menschen aus diesen Ländern nach Georgien. Schätzungsweise sind im Jahr 2022 rund 100.000 Menschen (2,7% der georgischen Gesamtbevölkerung) aus Russland und Belarus nach Georgien gekommen. Wir lassen Flüchtlinge aus der Ukraine in unserer Analyse außen vor, da ihre Struktur stark abweicht.

Bestand an zugezogenen Personen aus Russland und Belarus

Quelle: Ministerium für Innere Angelegenheiten, Nationalbank Georgiens, TBC Capital, GET-Berechnungen

*begrenzte Datenverfügbarkeit

Dabei lassen sich zwei Migrationswellen unterscheiden: Die erste Welle setzte unmittelbar nach Beginn des Krieges in der Ukraine ein und ebbte dann bis zum Sommer langsam ab. Die zweite Welle begann im September als Reaktion auf die Teilmobilisierung in Russland.

Zweite Umfrage mit zusätzlichen Erkenntnissen

Im Sommer 2022 führte das German Economic Team in Zusammenarbeit mit CRRC-Georgia, einem lokalen Forschungsinstitut, bereits eine erste Umfrage unter den Zugezogenen durch. Im Dezember 2022 wurde eine zweite, erweiterte Umfrage durchgeführt, welche auch die zweite Migrationswelle einschließt. Insgesamt wurden 528 Personen persönlich befragt. Aufgrund der Stichprobengröße und der Methodik sollten die Ergebnisse nicht für die gesamte Gruppe der Zugezogenen verallgemeinert werden. Andererseits ist anzumerken, dass eine repräsentative Stichprobe ohne weitere Kenntnisse über die Zusammensetzung der zugezogenen Personen und in Anbetracht der noch andauernden Migrationsbewegungen kaum möglich ist.

Häufig junge und mobile IT-Fachleute

Insgesamt sind viele Ergebnisse der zweiten Erhebung mit denen der ersten Befragung vergleichbar. Bei den Zugezogenen handelt es sich in der Regel um junge Städter mit höherem Bildungsniveau. Der Anteil der Erwerbstätigen ist relativ hoch (51%). Unter den Erwerbstätigen sind die meisten (44%) in der Informationstechnologie (IT) tätig. Die Zugezogenen arbeiten etwa zu gleichen Teilen für ein Unternehmen oder als Freiberufler. Eine relative Mehrheit (34%) der Personen arbeitet für ein russisches Unternehmen, während etwa ein Viertel für eine georgische Firma tätig ist. Betrachtet man nur die zugezogenen IT-Fachkräfte, so arbeitet jeweils etwa ein Drittel für ein russisches Unternehmen oder als Freiberufler, während nur 3% für ein georgisches Unternehmen tätig sind. Von den Befragten leben 13% allein, während etwa die Hälfte mit einem Partner gekommen ist. Da nur 18% der Befragten mit Kindern leben, scheinen die meisten der Zugezogenen relativ mobil zu sein. Die Umfrageergebnisse deuten auf eine Mediangröße der Haushalte von zwei Personen hin.

Erste und zweite Welle mit vergleichbaren Einkommen

Im Hinblick auf die Einkommensquellen ist das eigene Arbeitseinkommen oder das des Partners am wichtigsten (zusammen etwa 72%), während Ersparnisse und Rücküberweisungen nur einen geringen Anteil ausmachen. Zugezogene Menschen haben für georgische Verhältnisse meist ein hohes Einkommen. Das durchschnittliche monatliche Haushaltseinkommen der ersten Welle ist nur geringfügig höher als das der zweiten Welle (2.330 USD gegenüber 2.207 USD), entgegen den ursprünglichen Erwartungen zu Beginn der Teilmobilisierung im September. Die Einkommensunterschiede unter den Zugezogenen sind groß, ein Viertel der Stichprobe hat ein Einkommen von über 2.500 USD pro Monat. Dies lässt sich teilweise durch das höhere Durchschnittseinkommen von IT-Fachkräften erklären (3.179 USD). Die durchschnittlichen monatlichen Haushaltsausgaben sind ebenfalls hoch, wobei der Unterschied zwischen den beiden Wellen ähnlich groß wie bei den Einkommen ist (1.576 USD gegenüber 1.441 USD).

Keine klare Absicht, das Land kurzfristig zu verlassen

Georgien wurde vor allem aufgrund der günstigen Lebenshaltungskosten, Sicherheit und der leichten Erreichbarkeit als Zielland gewählt. Viele Befragte (46%) haben keine größeren Probleme im Alltag erlebt und die Zufriedenheit mit den Dienstleistungen ist sehr hoch (z. B. 88% bei Verkehrsmitteln und 78% bei Banken).

Geplante Aufenthaltsdauer % der Stichprobe
Quelle: GET-Umfrageergebnisse

Eine Schlüsselfrage für die Zukunft ist die Dauer des Aufenthalts und die dafür maßgeblichen Faktoren. Allerdings hat ein Großteil der Befragten (46%) diesbezüglich noch keine konkreten Pläne, wobei 67% die Dauer des Krieges als entscheidenden Faktor nennen. Etwa ein Viertel plant, ein Jahr oder länger zu bleiben. Ein Fünftel will auch nach Beendigung des Krieges nicht nach Russland zurückkehren. Diese Ergebnisse zeigen, dass die zugezogenen Personen kurzfristig keine klare Absicht haben, Georgien zu verlassen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass sich der Zuzug fortsetzt, denn 38% der Befragten gaben an, dass sie Freunde oder Verwandte haben, die einen Umzug nach Georgien in Betracht ziehen.

Entwicklung des Zuzugs von zentraler Bedeutung

Angesichts der hohen Migrationszahlen und der hohen Ausgaben sind die Zugezogenen zu einem bedeutenden Faktor für Georgiens Wirtschaft geworden. Auf Basis der Umfrageergebnisse schätzen wir, dass sie 2022 zusätzliche Konsumausgaben in Höhe von rund 498 Mio. USD (2,0% des BIP) bewirkt haben. Das war ein positiver Schock für die Gesamtnachfrage, der ein Schlüsselfaktor für das sehr starke BIP-Wachstum (10,1%) war. Unter der Annahme, dass der durchschnittliche Bestand an zugezogenen Personen konstant bei ca. 100.000 Personen bleibt, werden die Konsumausgaben in diesem Jahr schätzungsweise 865 Mio. USD (3,2% des BIP) erreichen.

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Auch in Armenien findet eine Zuwanderung, hauptsächlich aus Russland, statt. Das German Economic Team hat auch dort eine Folgebefragung durchgeführt. Die Ergebnisse sind in vielerlei Hinsicht ähnlich, aber es gibt wichtige Unterschiede. Insbesondere fällt die längere geplante Aufenthaltsdauer auf: 45% planen einen Aufenthalt von einem Jahr oder länger. Obwohl weniger Menschen zugewandert sind (ca. 55.000), führen höhere Durchschnittsausgaben zu einem ähnlichen Effekt auf die Gesamtnachfrage für 2022 (ebenfalls 2,0% des BIP).
Ausblick

Der Zuzug von Menschen aus Russland und Belarus war im vergangenen Jahr ein Schlüsselfaktor und hat zum starken Wachstum in Georgien beigetragen. Mit Blick auf die weitere Entwicklung wird vieles vom Verlauf des Kriegs in der Ukraine abhängen. Grundsätzlich gibt es kurzfristig weiteres Potenzial für Wachstumsimpulse. Mittel- und langfristig bietet der hohe Anteil an jungen IT-Fachkräften außerdem Chancen für die Entwicklung des lokalen IT-Sektors. Während der aktuelle Kriegsverlauf und die Umfrageergebnisse nicht auf eine plötzliche Umkehr der Migrationsströme hindeuten, besteht allerdings auch ein Abwärtsrisiko in ähnlicher Größenordnung wie der aktuelle positive Schock, sollten die Zugezogenen das Land verlassen.

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Dieser Newsletter basiert auf der Policy Study „Relocation of people from Russia and Belarus to Georgia: results of 2nd survey and update of economic implications“ und dem dazugehörigen Policy Briefing über  zugezogene IT-Fachkräfte. Die Ergebnisse für Armenien sind hier verfügbar.

Bild: Copyright: Adobe Stock\Alonaphoto