Wirtschaftliches Risikopotenzial ggü. Russland: hoch, aber stabil
Das Risikopotenzial der armenischen Wirtschaft gegenüber Russland – dem wichtigsten Handelspartner des Landes – ist traditional immer recht hoch gewesen. In 2022 haben der Krieg in der Ukraine und die westlichen Sanktionen jedoch zu erheblichen Verschiebungen in den weltweiten Wirtschaftsbeziehungen zu Russland geführt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich das Risikopotenzial Armeniens gegenüber Russland verändert hat.
Eine Analyse verschiedener Indikatoren zeigt, dass es insgesamt zu keiner höheren strukturellen Abhängigkeit gekommen ist. Zwar hat sich auf den ersten Blick der Anteil Russlands an den armenischen Exporten, Tourismus und Geldtransfers deutlich erhöht, doch oft lässt sich das mit temporären Sonderfaktoren wie Re-Exporten oder Migration erklären. In einigen Bereichen wie Staatverschuldung und Bankensektor hat das Risikopotenzial gegenüber Russland sogar abgenommen. Nichtdestotrotz sollten Entscheidungsträger den sich aktuell durch die gute Wirtschaftslage bietenden Freiraum nutzen, um die Wirtschaft weiter zu diversifizieren.
Risikopotenzial durch strukturelle Abhängigkeit
Armeniens wirtschaftliches Risikopotenzial gegenüber Russland ist traditional hoch. Der russische Markt ist in der Regel das wichtigste Ziel für armenische Exporte und Importe. Insbesondere im Energiesektor ist Armenien stark von Gas- und Ölimporten aus Russland abhängig. Auch Rücküberweisungen und Direktinvestitionen aus Russland spielen eine wichtige Rolle für die armenische Wirtschaft. Darüber hinaus sind russische Touristen traditionell eine wichtige Einnahmequelle für den armenischen Dienstleistungssektor.
Die genannten Faktoren haben einen signifikanten Einfluss auf die armenische Wirtschaft und es wäre nur schwer möglich, sie in der kurzen bis mittleren Frist durch andere Märkte bzw. Einnahmequellen zu ersetzen. In diesen Fall sprechen wir von einer strukturellen Abhängigkeit („Exposure“). Das German Economic Team hat in diesem Sinne untersucht, ob es im Zuge des Krieges in der Ukraine dazu gekommen ist, dass sich das Exposure Armeniens gegenüber Russland sogar noch weiter vertieft hat. Dabei ist es wichtig, zu unterscheiden, ob eine Veränderung in den Indikatoren eine eher vorübergehende Natur hat, oder ob sie bereits einen strukturellen Charakter einnimmt.
Warenexporte: leichter Anstieg des Risikopotenzials
Die armenischen Warenexporte nach Russland haben sich 2022 fast verdreifacht. Dies hatte zur Folge, dass auch der Anteil Russlands von 27% in 2021 auf ganze 45% in 2022 anwuchs. Auf den ersten Blick lassen die Zahlen somit auch ein höheres Exposure vermuten. Eine tiefere Analyse zeigt jedoch, dass Re-Exporte über Armenien nach Russland für den größten Teil des Anstiegs (76%) verantwortlich waren. Es handelt sich also um Waren, die nicht in Armenien hergestellt werden und somit nur wenig strukturellen Einfluss auf die lokale Wirtschaft haben. Darüber hinaus haben Re-Exporte auch einen eher temporären Charakter, weswegen sie als ein Sonderfaktor und nicht als ein Anstieg des Risikopotenzials angesehen werden sollten.
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Betrachtet man nur Exporte von traditionell in Armenien hergestellten Waren, stellt man einen leichten Anstieg des russischen Anteils fest (2022: 26%, +3 PP). Haupttreiber waren hier vor allem (alkoholische) Getränke (+8 PP), welche bereits davor überwiegend nach Russland exportiert wurden (2021: 72%). Armenische Hersteller konnten die durch das Fehlen westlicher Produkte entstandenen Lücken auf dem russischen Markt mit Hilfe bereits etablierter Logistikketten und eines hohen Bekanntheitsgrades ihrer Produkte teilweise füllen. Bei den meisten anderen traditionellen Waren ist dagegen ein Rückgang des Anteils der Exporte nach Russland zu verzeichnen, was seinerseits für eine leichte Abnahme des Risikopotenzials spricht.
Warenimporte: gemischte Signale
2022 stieg der Wert der aus Russland importierten Waren deutlich an (47% z. Vj.). Gleichzeitig ist jedoch der Anteil Russlands an den armenischen Gesamtimporten gesunken (30%; -4 PP). Diese Entwicklung steht im engen Zusammenhang mit dem boomenden Geschäft der Re-Exporte, die umfangreiche Importe aus anderen Ländern nach sich ziehen. Damit ist der Rückgang des russischen Anteils nicht aussagekräftig im Hinblick auf das Risikopotenzial. Bei den einzelnen Gütern ist jedoch ein leichter Anstieg an Exposure bei Gas zu verzeichnen: Der bereits dominante Anteil Russlands (2021: 85%) wuchs 2022 um weitere 3 PP. Auch stieg der russische Anteil bei Gold (2022: 89%; +10 PP) und insbesondere Diamanten (2022: 46%; +33 PP) signifikant an. Hier handelt es sich zum großen Teil um neues Geschäft mit Wertschöpfung in Armenien (z.B. Schleifen von Edelsteinen), was ebenfalls für eine Zunahme des Risikopotenzials gegenüber Russland spricht.
Tourismus und Geldtransfers: Sonderfaktor Migration
Traditionell ist Tourismus einer der wichtigsten Sektoren der armenischen Wirtschaft. Dabei machten Besucher aus Russland vor der Corona-Pandemie rund 20% der gesamten Touristen aus. Dieser Anteil ist 2022 sprunghaft auf über 50% gestiegen. Jedoch kann hier nicht direkt von einem höheren Exposure gesprochen werden, da aus statistischer Sicht eine Unterscheidung zwischen regulären Touristen und Zuwanderern oft schwierig ist. Es ist davon auszugehen, dass die Anzahl der russischen Touristen und die damit verbunden Einnahmen somit etwas überschätzt werden. Für 2022 kann daher keine abschließende Aussage über die Entwicklung des Risikopotenzials im Tourismussektor getroffen werden.
Rücküberweisungen, welche aus statistischen Gründen mit Geldtransfers approximiert werden, sind ebenfalls ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für Armenien (ca. 11% des BIP). Russland ist neben den USA stets eines der Hauptherkunftsländer für Geldtransfers gewesen. 2022 haben sich die Transfers aus Russland mehr als vervierfacht, womit der Anteil auf 69% anstieg (+28 PP). Hier kann jedoch erneut nicht von einem höheren Risikopotenzial gesprochen werden, da temporäre Faktoren wie Zuwanderung, Kapitalflucht und Arbitragemöglichkeiten die Hauptreiber des Anstiegs waren.
Leichter Rückgang in einigen anderen Bereichen
Auch andere Indikatoren wurden im Hinblick auf eine Veränderung des Risikopotenzials gegenüber Russland untersucht. Im Bereich der ausländischen Direktinvestitionen gab es keine Anzeichen für höheres Exposure; bei den meisten Investitionen handelte es sich um reinvestierte Gewinne. Im Bankensektor war das Risikopotenzial auch bereits vor 2022 eher gering und ging sogar noch weiter zurück, da sich der Marktanteil der VTB – der einzigen Bank mit russischem Kapital in Armenien – halbierte. Auch gab es keinen Anstieg bei der Verschuldung (Exposure) gegenüber Russland; hier setzte sich weiterhin der rückläufige Trend fort.
Regionaler Vergleich mit Georgien: ähnliche Ergebnisse
Das German Economic Team untersuchte auch das wirtschaftliche Risikopotenzial Georgiens gegenüber Russland. Auch hier hatten 2022 Sonderfaktoren einen starken Einfluss. So waren Entwicklungen im Handel durch Re-Exporte geprägt; der Preisabschlag auf russisches Urals-Öl führte zu höheren Importen nach Georgien. Die signifikante Zuwanderung aus Russland beeinflusste ebenfalls die Statistiken für Tourismus und Geldtransfers. Rechnet man den Einfluss der Sonderfaktoren heraus, weisen die verschiedenen wirtschaftlichen Indikatoren jedoch auf eine stabile und teilweise sogar rückläufig Rolle Russlands in der georgischen Wirtschaft hin.
Ausblick
Insgesamt blieb das wirtschaftliche Risikopotenzial Armeniens gegenüber Russland 2022 hoch, jedoch ohne einen nennenswerten Anstieg. Temporäre Sonderfaktoren wie Re-Exporte und Migration haben zwar zu einem höheren Anteil Russlands bei einigen Indikatoren geführt, jedoch sollte dies nicht als ein Anstieg der strukturellen Abhängigkeit interpretiert werden. Da sich die armenische Wirtschaft aktuell in einer starken Wachstumsphase befindet, lässt dies grundsätzlich genug Spielraum für Reformen zur weiteren Diversifizierung der Wirtschaft. Vor allem im Energiesektor ist die Abhängigkeit von russischen Ressourcen sehr hoch.
Dieser Newsletter basiert auf der Policy Study „Armenia’s economic exposure to Russia: recent developments“. Die Analyse für Georgien ist hier verfügbar.
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