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Sierž Naūrodski

Wirtschaftliche Migration aus Belarus in die EU seit August 2020

Seit August 2020 ist ein zunehmender Trend der Abwanderung von Einzelunternehmern und Unternehmen aus Belarus zu beobachten. Die wichtigsten Treiber dieses Prozesses waren die gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus im August 2020 und der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022. Beide Ereignisse führten zu einer massiven Verschlechterung des Geschäftsklimas im Land. Als Reaktion darauf wandern immer mehr belarussische Geschäftsleute in die EU-Länder aus, die günstigere Geschäftsbedingungen bieten.

  • Belarus
NL 79 | November - Dezember 2022
Arbeitsmarkt und Migration

Die Abwanderung von Einzelunternehmern und die vollständige oder teilweise Verlagerung von Unternehmen aus Belarus sind die beiden Hauptformen der derzeit zu beobachtenden Entwicklung. Da Polen und Litauen aktiv als Zielländer gewählt werden, ist die Unterstützung der EU für die wachsende belarussische Wirtschaftsdiaspora von entscheidender Bedeutung.

Verschlechterung des Geschäftsklimas in Belarus

Die politische Krise, die nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus im August 2020 begann, hatte unmittelbare negative Auswirkungen auf Privatunternehmen und Selbstständige. Die Vertreter der belarussischen Unternehmerschaft, die die Haupttriebkraft der Proteste gegen das Lukaschenko-Regime war, sahen sich nicht nur mit finanziellen Verlusten infolge der wirtschaftlichen Instabilität im Lande konfrontiert, sondern auch mit einem erhöhten Risiko von Inspektionen, Verhaftungen und Zwangsschließungen. Der russische Angriff auf Ukraine im Februar 2022 trug erheblich zur Verschlechterung des Geschäftsklimas bei, indem er neue Belastungen erzeugte. Zu den größten Herausforderungen für belarussische Unternehmen gehörte der Reputationsverlust, was dazu führte, dass ihre westlichen Partner aus Angst vor internationalen Sanktionen immer weniger bereit waren, Geschäftsbeziehungen aufrechtzuerhalten. Zudem erschwerten Compliance Bedenken im Zuge der Sanktionen gegen belarussische Banken die Abwicklung von internationalen Geldtransfers, während Wechselkursschwankungen und die sinkende Kaufkraft der belarussischen Konsumenten Unsicherheit und Geschäftskosten weiter erhöht haben. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hatte mehrere wichtige ökonomische Konsequenzen. Zum einen mussten viele Unternehmen ihren Betrieb einstellen. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 wurden 5.779 kleine und mittlere Unternehmen (KMU) geschlossen, was 1,6% der Gesamtzahl der KMU in Belarus entspricht. Vor dem Hintergrund der überwiegend staatlich dominierten belarussischen Wirtschaft ist dieser Rückgang ein erheblicher Verlust für den Privatsektor in Belarus. Zum anderen sank auch das Beschäftigungsniveau: Im selben Zeitraum verlor die belarussische Wirtschaft 64,2 Tsd. Erwerbstätige (-1,5% z. Vj.). Entsprechend beschleunigte sich die Abwanderung von Einzelunternehmern und Unternehmen aus Belarus.

Unternehmerische Migration aus Belarus

Unter unternehmerischer Migration versteht man alle Arten von Verlagerungen der selbständigen Tätigkeit sowie Firmengründungen in neuen Zielländern. Hier waren Polen und Litauen die beliebtesten Ziele für belarussische Unternehmer. Schätzungen zufolge sind seit August 2020 rund 75.600 Belarussen nach Polen gezogen. Es ist zu erwarten, dass dieses Potenzial für die unternehmerische Migration von Belarus nach Polen aufgrund der vereinfachten rechtlichen Verfahren in Polen sich noch weiter erhöhen wird. So ermöglichen z.B. jüngste Gesetzesänderungen den Inhabern vom „Polish Business Harbour“ (PBH), sowie von einem humanitären Visum, ein vereinfachtes Verfahren für die Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Neben den günstigeren Einreisebestimmungen ist die geografische Nähe ein weiterer wichtiger Faktor für die Wahl des Ziellandes. Daher ist Litauen das zweitwichtigste Zielland für die belarussische Unternehmermigration. Schätzungen zufolge sind seit August 2020 rund 47.600 Belarussen nach Litauen gezogen. Laut Eurostat entfielen auf Litauen und Polen zusammen 94,4% aller Aufenthaltsgenehmigungen, die belarussischen Bürgern in der EU im Jahr 2021 erteilt wurden. Da der kumulierte Anteil, der in Polen und Litauen ausgestellten Aufenthaltsgenehmigungen im Jahr 2020 noch 92% betrug, kann man von einer zunehmenden Konzentration der belarussischen Unternehmermigration in diesen beiden Ländern sprechen.

Geschätzte Migration aus Belarus nach August 2020

Quelle: eigene Ausarbeitung auf Basis öffentlicher Informationen

Unter allen belarussischen Wirtschaftsmigranten machen IT-Spezialisten einen bedeutenden Teil aus, wobei sich ihre Abwanderung seit Februar 2022 erheblich beschleunigt hat. Experten schätzen, dass seither bis zu 23.000 IT-Spezialisten aus Belarus abgewandert sind. Polen war erneut das Hauptzielland. Neben Polen und in geringerem Maße Litauen gehörten auch Georgien, Usbekistan und die Türkei zu den Top-Zielländern für belarussische IT-Spezialisten.

Verlagerung von Unternehmen

Die Wahl des Ziellandes für die Verlagerung von Unternehmen aus Belarus hängt von Faktoren wie der Unternehmensgröße, der Anzahl der zu verlagernden Mitarbeiter sowie den Visa-Voraussetzungen ab. Entsprechend entscheiden sich vor allem kleine Unternehmen für die vergleichsweise unkomplizierte Verlagerung in die Nachbarländer Polen und Litauen. Mittlere und größere Unternehmen dagegen bevorzugten eine vollständige oder teilweise Verlagerung in Länder, in welchen die Kosten für die Verlagerung am effektivsten minimiert werden konnten. Es wird geschätzt, dass nach August 2020 mindestens 2.100 Unternehmen ganz oder teilweise von Belarus in die EU verlagert wurden. Die meisten von ihnen sind jetzt in Polen registriert (80%), während Polen zusammen mit Litauen 90% der gesamten Unternehmensverlagerungen aus Belarus ausmachen. Somit herrscht auch in diesem Bereich eine hohe Konzentration der belarussischen Wirtschaftsdiaspora in Polen und Litauen vor. Die meisten belarussischen Firmen, die nach Polen und Litauen verlagert wurden, sind vor allem im Dienstleistungssektor tätig: Einzel- und Großhandel, Transport und Bauwesen, Hotel- und Gaststättengewerbe und im Finanzsektor.

Geschätzte Unternehmensverlagerungen nach August 2020

Quelle: eigene Ausarbeitung aufgrund öffentlicher Informationen

Was andere EU-Länder betrifft, so haben vor allem Lettland und Estland mit rund 200 die meisten belarussische Unternehmen attrahiert. Im Vergleich zu Litauen und insbesondere Polen führen die weniger attraktiven Bedingungen und die vergleichsweise hohen Visakosten zu einem eher mäßigen Interesse an Unternehmensverlagerung. Es gibt daher keine Anzeichen dafür, dass eine nennenswerte Anzahl belarussischer Unternehmen ihre Aktivitäten in weitere EU-Länder verlegt hätten.

Potential der Wirtschaftsmigration

Es wird allgemein davon ausgegangen, dass Wirtschaftsmigration, wie die von belarussischen Einzelunternehmern und Unternehmen, positive Auswirkungen auf die Zielländer hat. Um die wachsenden Bedürfnisse der belarussischen Wirtschaftsdiaspora in der EU zu unterstützen, wurde der Verband der belarussischen Unternehmen im Ausland (engl. Association of Belarusian Business Abroad, „ABBA“) gegründet. Durch den Aufbau von Kontakten zu zahlreichen nationalen und internationalen Wirtschaftsverbänden verbindet ABBA nicht nur Mitglieder der belarussischen Unternehmerschaft, sondern unterstützt sie auch dabei, das Geschäftsumfeld in ihren neuen Zielländern zu verstehen und erleichtert somit auch den Zugang zu Finanzmitteln. Außerdem unterstützt der kontinuierlichen Dialog zwischen ABBA und der EU, die Wirtschaft der Zielländer positiv durch die Aktivitäten der belarussischen Wirtschaftsdiaspora zu beeinflussen.

Ausblick

Die Wirtschaftsmigration aus Belarus in die EU ist ein kontinuierlicher Prozess, der stark von der aktuellen politischen Lage im Land abhängt. Die Unterstützung des Lukaschenko-Regimes für den anhaltenden russischen Krieg in der Ukraine verschlechtert das Geschäftsklima für Privatunternehmen weiter und erhöht die Wahrscheinlichkeit wachsender Wirtschaftsmigrationsströme aus Belarus. Um deren positiven Auswirkungen zu nutzen und sowohl für belarussische Migranten als auch für ihre Zielländer eine Win-Win-Situation zu schaffen, sollte weiterhin versucht werden, die belarussische Wirtschaftsdiaspora zu vereinen und ihre Beziehungen zu den Gastländern in der EU zu stärken.

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Sierž Naūrodski ist Senior Economist bei CASE Belarus Team und ist unter sierz.naurodski@case-research.eu erreichbar.

Der Inhalt liegt in der alleinigen Verantwortung des Autors und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung des German Economic Team wider.

Dieser Newsletter basiert auf dem in Kürze erscheinenden Policy Paper “Business Migration from Belarus to the EU after August 2020”.