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Dmitry Chervyakov, Dr. Ricardo Giucci

Stärkere wirtschaftliche Verflechtungen mit Russland

Nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine erwarteten Experten aufgrund der starken Verflechtungen mit der russischen Wirtschaft schwerwiegende negative Folgen für Armenien. Jüngste Daten deuten jedoch auf eine positive Wirkung hin: Die Exporte nach Russland sind stark gestiegen, ebenso wie die Einnahmen aus dem Tourismus und die Geldüberweisungen aus Russland.

  • Armenien
NL 07 | September - Oktober 2022
Makroökonomische Analysen und Prognosen

Darüber hinaus wanderten viele hoch qualifizierte Arbeitskräfte, besonders aus dem IT-Sektor, zu Beginn des Krieges nach Armenien aus. Dies gab der Wirtschaft einen deutlichen Schub.

Alle Dynamiken zusammengenommen tragen dazu bei, dass für die armenische Wirtschaft im Jahr 2022 ein Wachstum von rund 7% erwartet wird. Auf kurze Sicht sind diese positiven Schocks sehr willkommen, mittelfristig bergen Sie allerdings signifikante Risiken. Die Verflechtung mit Russland ist stark gestiegen, während die mittelfristigen Perspektiven für die russische Wirtschaft höchst unsicher sind. Unternehmen und politische Entscheidungsträger sollten diese Risiken im Blick behalten und entsprechend reagieren.

Erwartungen nach dem Ausbruch des Ukrainekrieges

Noch im Frühjahr 2022 deuteten Prognosen für Russland auf einen Rückgang des realen BIP um 10% sowie eine starke Abwertung des russischen Rubels hin. Folglich wurde erwartet, dass eine Wirtschaftskrise in Russland erhebliche negative Auswirkungen auf Armenien haben würde, da das Land stark mit der russischen Wirtschaft verbunden ist. Im Einzelnen gingen im Jahr 2021 rund 28% der armenischen Waren- und 19% der Dienstleistungsexporte nach Russland. Gleichzeitig stammten 41% der Rücküberweisungen und fast ein Drittel der Nettozuflüsse an ausländischen Direktinvestitionen aus Russland.

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Es wurde daher erwartet, dass eine Schwächung der russischen Wirtschaft zu einem Rückgang der armenischen Exporte nach Russland sowie zu weniger Rücküberweisungen und FDI-Zuflüssen aus Russland führen würde. Dies hatte ursprünglich eine deutliche Abwärtskorrektur der BIP-Prognose für 2022 in einer Größenordnung von 3 bis 4 Prozentpunkten zur Folge.

Gleichzeitig wurden – im Gegensatz zu anderen GUS-Ländern wie Moldau – die steigenden globalen Energiepreise, aufgrund des bis Ende 2022 festgelegten Gaspreises und der Preisabschläge für das russische Urals-Rohöl, nicht als problematisch für Armenien angesehen. Außerdem ging man bereits im Frühjahr davon aus, dass Armenien von der Substitution westlicher Exporte nach Russland profitieren könnte, welche aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten, Sanktionen und Reputationsrisiken wegfallen könnten.

Derzeitige Entwicklungen widerlegen Erwartungen

Mit zunehmender Datenverfügbarkeit ist klar geworden, dass die ursprünglichen Erwartungen in mehrfacher Hinsicht zu pessimistisch waren. Erstens wird die russische Wirtschaft im Jahr 2022 nicht mit einer zweistelligen Rezession konfrontiert sein. Die jüngste IWF-Prognose (Okt-22) geht stattdessen von einem realen BIP-Rückgang von nur 3,5% aus, was größtenteils auf die Stabilisierung des russischen Rubels aufgrund der entschiedenen Geldpolitik und Kapitalregulierung seitens der russischen Zentralbank zurückzuführen ist. Zweitens wachsen die armenischen Warenexporte nach Russland derzeit im Rekordtempo. Drittens stiegen die Einnahmen aus dem Tourismus und die Geldtransfers deutlich an, was, viertens, auf den erheblichen Zustrom von Menschen aus Russland zurückzuführen ist. Der IWF sowie die meisten anderen Institutionen haben daher ihre Prognose für das reale BIP Armeniens im Jahr 2022 von 1,5% (Apr-22) auf 7,0% (Okt-22) angehoben.

Starker Anstieg der Exporte nach Russland

Entgegen den ursprünglichen Erwartungen entwickelten sich die armenischen Exporte nach Russland sehr positiv. In 8M2022 wuchsen sie um mehr als
500 Mio. USD oder 103% – eine Rekordwachstumsrate selbst nach der Erholung von der Corona-Pandemie im Jahr 2021. Gleichzeitig stiegen die Gesamtexporte (ohne Russland) nur um 34%, was zu einem Anstieg des Anteils von Russland an den armenischen Gesamtexporten von 28% im Jahr 2021 auf derzeit 36% führte.

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Die armenischen Exporte nach Russland sind auch deshalb deutlich gewachsen, weil dieses Jahr eine Reihe von neuen Gütern exportiert werden, insbesondere aus der Kategorie „Maschinen und Ausrüstungen“. Diese neuen Güter machten rund 40% des nominalen Wachstums in 8M2022 aus.

Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Erstens hat der armenische Dram seit Beginn des Krieges in der Ukraine bis Ende Sep-22 um ca. 12% gegenüber dem russischen Rubel abgewertet. Dies wiederum macht armenische Exporte nach Russland wettbewerbsfähiger. Gleichzeitig kam es zu einer erheblichen Aufwertung gegenüber dem US-Dollar (14,8%) und einer noch stärkeren Aufwertung gegenüber dem Euro (25,5%), wodurch armenische Exporte in westlichen Märkten an Wettbewerbsfähigkeit verloren haben. Folglich lässt sich das starke Wachstum der Exporte nach Russland bereits zum Teil durch reine makroökonomische Dynamiken erklären. Insbesondere bei den neuen Gütern dürfte es jedoch zu einer erheblichen Substitution westlicher Exporte nach Russland gekommen sein.

Starke Tourismuseinnahmen und Rücküberweisungen

Auch die Tourismuseinnahmen und Rücküberweisungen entwickeln sich derzeit außergewöhnlich gut. Den jüngsten Daten zufolge stiegen die Einnahmen aus dem Tourismus um 155% (H1 2022), während die Geldüberweisungen aus Russland um 247% (8M2022) zunahmen, was sich sehr positiv auf die armenische Wirtschaft auswirkt. Jedoch sollte angemerkt werden, dass der Tourismussektor voraussichtlich nicht an seine Einnahmen aus 2019 herankommt, und der Anstieg der Geldüberweisungen hauptsächlich auf den starken Zustrom von Menschen aus Russland, welche ihre Geldmittel von russischen auf armenische Bankkonten transferieren, zurückzuführen ist. Dies sind also keine Rücküberweisungen im klassischen Sinne; auch die Einnahmen aus dem Tourismus werden durch den Zuwanderungsstrom in die Höhe getrieben, da Migranten bei der Wohnungssuche in der Regel längere Aufenthalte in Hotels haben. Allerdings haben sich auch hier die anfänglichen Erwartungen im Zusammenhang mit einer Schwächung der russischen Wirtschaft nicht bewahrheitet.

Starker Zustrom von Menschen aus Russland

Nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine haben viele junge und hochqualifizierte Fachkräfte – insbesondere aus dem IT-Sektor – beschlossen, Russland zu verlassen. Armenien und andere GUS-Länder sind beliebte Ziele, da sie leicht zu erreichen sind und dennoch weiter Zugang zu Finanzmitteln in Russland bieten. GET hat eine detaillierte Analyse für Armenien (und Georgien) durchgeführt, in welcher die wirtschaftlichen Auswirkungen genauer untersucht werden. Für Armenien schätzten wir auf Grundlage der Daten vom Mai-22, dass im Jahr 2022 insgesamt 28.000 Menschen aus Russland (und in geringem Maße aus Belarus und der Ukraine), zuwandern werden. Bei durchschnittlichen monatlichen Haushaltsausgaben von rund 1.300 USD würde sich der zusätzliche Konsum im Jahr 2022 auf insgesamt 163 Mio. USD oder ca. 1,2 % des BIP belaufen.

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Es ist bereits jetzt zu erkennen, dass sich die Zuwanderungsdynamik nach dem Beginn der Teilmobilisierung in Russland noch weiter beschleunigt hat, was sicherlich auch die negativen Auswirkungen auf die Inflation und die Sozialpolitik (Mieten) beschleunigen dürften. Es ist auch davon auszugehen, dass sich der professionelle Hintergrund der neu zuwandernden Menschen verändert haben wird.

Ausblick

Entgegen den anfänglichen Erwartungen hat sich die Abschwächung der russischen Wirtschaft bisher nicht negativ auf Armenien ausgewirkt. Im Gegenteil: Die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und Armenien haben sich in den letzten Monaten vertieft. Kurzfristig ist dies ein positiver Faktor für Armenien, der wesentlich zu dem starken Wirtschaftswachstum im Jahr 2022 beiträgt. Aus mittelfristiger Sicht ist dies jedoch nicht unbedingt eine günstige Entwicklung. Eine zu starke Abhängigkeit von einem Land ist nicht gesund, zumal die Wahrscheinlichkeit, dass in Russland im nächsten Jahr schwerwiegende wirtschaftliche Probleme auftreten, recht hoch ist. Die Schlüsselfrage für Unternehmen und politische Entscheidungsträger sollte sein, wie man kurzfristige Chancen nutzt und mittelfristige Risiken reduziert. In dieser Hinsicht sollten insbesondere die laufenden Bemühungen im Bereich der Exportdiversifizierung weiter verstärkt werden.

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Dieser Newsletter basiert teilweise auf der 8. Ausgabe des Wirtschaftsausblicks für Armenien und der Policy Study „Relocation of people from Russia to Armenia: results of survey and economic implications“.