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Garry Poluschkin

Niedriges Wirtschaftswachstum in Zeiten sehr großer Unsicherheit

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert nun schon seit elf Monaten, hat massives humanitäres Leid und einen starken Rückgang der Wirtschaftstätigkeit in der Ukraine zur Folge. Es wird geschätzt, dass das BIP 2022 um 30,2% zurückging. Das Ausmaß ist geringer als in den ersten Monaten der Invasion erwartet, da die Ukraine Teile ihrer Gebiete befreite, das Getreideabkomme für Exporte über den Seeweg nutzte und zerstörte kritische Infrastruktur wiederaufbaute. Die meisten kriegsbedingten Faktoren werden jedoch auch 2023 die wirtschaftliche Entwicklung beeinflussen. Wir prognostizieren ein moderates Wirtschaftswachstum von 1,8% zum Vorjahr.

  • Ukraine
NL 171 | Januar 2023
Makroökonomische Analysen und Prognosen

Dabei gehen wir von einer stabileren Sicherheitslage in der zweiten Jahreshälfte aus. In diesem Zusammenhang ist die Prognose jedoch mit einem hohen Maß an Unsicherheit über die weitere Dauer und Intensität des Krieges behaftet.

Beispielloser Einbruch der ukrainischen Wirtschaft

Russlands Invasion seit dem 24. Februar 2022 führt zu humanitärem Leid und einem Rückgang der Wirtschaftsaktivitäten in der Ukraine. Sieben Millionen Menschen mussten das Land verlassen, weitere sechs Millionen wurden im Inland vertrieben und die Schäden an der Infrastruktur belaufen sich auf mehr als 138 Mrd. USD. Exportorientierte Sektoren leiden unter Russlands Blockade der ukrainischen Seehäfen. Durch das Getreideabkommen wurde nur ein kleiner Teil der gesamten Exportkapazitäten wieder freigegeben. Als Reaktion auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Invasion führten ukrainischen Entscheidungsträger verschiedene wirtschaftspolitische Maßnahmen ein, darunter Steuererleichterungen, ein erweitertes subventioniertes Kreditprogramm für Unternehmen und die Einführung eines festen Wechselkurses sowie Kapitalverkehrskontrollen. In Anbetracht des Ausmaßes der Zerstörung und der begrenzten Mittel zur Unterstützung fiel die ukrainische Wirtschaft nach ersten Schätzungen von Ukrstat jedoch im zweiten Quartal um 37% und im dritten Quartal 2022 um 31% zum Vorjahr. In diesem Zusammenhang haben das Institut für Wirtschaftsforschung und Politikberatung (IER) und das German Economic Team (GET) eine gemeinsame Schätzung für das Gesamtjahr 2022 und eine Prognose für 2023 vorgenommen. Da das vierte Quartal stark von Stromausfällen infolge der russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur betroffen war, wird für das Gesamtjahr 2022 ein Rückgang des BIP um 30,2% zum Vorjahr erwartet. Dieser Rückgang ist deutlich geringer als noch im Juni von der Weltbank geschätzt (-45.1%), da die ukrainische Wirtschaft eine starke Widerstandsfähigkeit zeigte.

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Dennoch verdeutlicht das Ausmaß des Rückganges, dass zur wirtschaftlichen Erholung große Kraftanstrengungen 2023 und in den Folgenjahren notwendig sein werden.

Niedriges Wachstum 2023

Die meisten kriegsbedingten Faktoren beeinträchtigen die wirtschaftliche Entwicklung auch im Jahr 2023. Viele Haushalte werden weiterhin im Ausland bleiben müssen und die entgangenen Lohneinnahmen werden die Erholung des privaten Konsums einschränken. Russlands Angriffe beschädigen weiterhin die ukrainische Infrastruktur. Für die makroökonomische Prognose für 2023 wird angenommen, dass die Ukraine ab der zweiten Jahreshälfte ihre Gebiete schrittweise befreit. Diese Annahme setzt voraus, dass internationale Partner ihre Unterstützung aufrechterhalten und ihre Zusagen einhalten werden. Eine stabilere Sicherheitslage wird eine höhere Produktion der exportorientierten Sektoren ermöglichen. Verbesserte Logistik im Vergleich zum Vorjahr wird zu einem realen Wachstum der Exporte und Importe beitragen. Unter diesen Voraussetzungen wird von uns für 2023 ein Wirtschaftswachstum von 1,8% prognostiziert.

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Diese Prognose ähnelt derer anderer Institutionen (z. B. Goldman Sachs: +2,0%). Andere Prognosen erwarten einen weiteren wirtschaftlichen Abschwung (BNP Ukrsibbank: -5,0%) oder etwas optimistischere Wachstumsraten (ukrainisches Wirtschaftsministerium: +3,2%). Die große Bandweite verdeutlicht jedoch die massiven Unsicherheiten.

Nachfrageseite: Wachstum durch Basiseffekte

Die schwache Erholung des privaten Konsums (+2,6%) aufgrund eines realen Rückgangs des verfügbaren Einkommens seit der Invasion ist ein wichtiger Grund für das geringe Wirtschaftswachstum. Investitionen werden um 7,3% wachsen, da zerstörte kritische Infrastruktur schnelle und stetige Reparaturen erfordert. Diese gingen 2022 allerdings um mehr als 50% zurück. Die Staatsausgaben werden leicht fallen (-0,3%). Schließlich wird das reale Exportwachstum aufgrund von Basiseffekten aus dem Vorjahr leicht über dem der Importe liegen.

Angebotsseite: Industrieproduktion geht weiter zurück

Auf der Angebotsseite werden Handel und Transport von verbesserten Logistikbedingungen profitieren und voraussichtlich um 4,1% bzw. 5,9% zum Vorjahr steigen. Die Prognose des Landwirtschaftssektors wird von zwei gegensätzlichen Faktoren beeinflusst. Einerseits wird der Sektor weiter vom Getreideabkommen profitieren. Andererseits reduzieren Minen und andere kriegsbedingte Belastungen die Produktion und beeinträchtigen die Ernte. Daher wird für diesen Sektor ein Wachstum von nur 0,7% zum Vorjahr prognostiziert. Die Industrieproduktion wird aufgrund der Zerstörungen an Anlagen, Infrastruktur und Produktionskapazitäten im Metallsektor weiter zurückgehen. Außerdem umfasst das Getreideabkommen nicht den Transport von Industriegütern, während der Transport auf Schienen physischen Beschränkungen ausgesetzt ist. Folglich wird jede größere Ausweitung der Exporte dieses Sektors die Befreiung der Seehäfen erfordern müssen.

Inflation wird im Jahresverlauf zurückgehen

Unterbrochene Lieferketten und eine umfangreiche monetäre Haushaltsfinanzierung beschleunigten die Inflation im zweiten und dritten Quartal 2022, auch wenn die Inflation weniger stark anstieg als prognostiziert. Die verbesserte Logistik und ein Rückgang der globalen Inflation werden im Jahr 2023 bremsend wirken. Falls internationale Partner ihre Zusagen über die Finanzhilfen einhalten, wird die Nationalbank die monetäre Finanzierung des Haushalts einstellen können. Diese Effekte dürften die Inflation von 26,6% (Ende 2022) auf 20,1% (Ende 2023) sinken lassen.

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Unter der Annahme, dass die zugesagten Finanzhilfen geleistet und umfangreichen Rücküberweisungen andauern werden, wird ein Leistungsbilanzüberschuss von 1,6% des BIP (2,4 Mrd. USD) erwartet. Diese Entwicklung verringert den Druck auf den Wechselkurs und stabilisiert die Inflationserwartungen weiter.

Ausblick

Die Fortsetzung des Krieges führt zu einer noch nie dagewesenen Unsicherheit für Wirtschaftsprognosen, mit erheblichen Abwärtsrisiken. Falls beispielsweise die Besetzung von Landesteilen länger andauert bzw. Zerstörungen intensiver ausfallen als angenommen, das Getreideabkommen beendet wird oder sich die Hilfe der Partnerländer verzögert, kann sich die Prognose deutlich verschlechtern. In einem pessimistischen Szenario rechnen wir mit einem weiteren Rückgang der Wirtschaft um 6,2%. Andererseits wird sich die wirtschaftliche Erholung umso früher vollziehen und der breit angelegte Wiederaufbau umso früher beginnen, je schneller die Ukraine in der Lage sein wird besetzte Gebiete zu befreien

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Dieser Newsletter basiert auf der gemeinsamen Prognose des Instituts für Wirtschaftsforschung und Politikberatung (IER) und des German Economic Team (GET) ”Economic forecast for 2023: War causes huge uncertainty”.