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Dr. Stefan Meister

Formeller Beginn der Beitrittsverhandlungen für die Ukraine

Nach der Entscheidung des Europäischen Rates vom 14./15. Dezember 2023 Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu eröffnen, bestätigte der Rat am 21. Juni 2024 den Rahmen für die formelle Eröffnung der Verhandlungen in Übereinstimmung mit einer überarbeiteten Erweiterungsmethodologie. Während der Erweiterungsprozess als geostrategische Investition in Frieden, Sicherheit, Stabilität und Prosperität bezeichnet wird, machen die Mitgliedsstaaten deutlich, dass dieser Prozess auf fairer und starker Konditionalität erfolgt, basierend auf Prinzipien von Leistung und Umkehrbarkeit sollten die Kriterien nicht eingehalten werden oder es Rückschritte geben.

  • Ukraine
NL 189| Juli 2024
Außenhandel und regionale Integration

Damit wird nochmal deutlich, dass es keine Sonderbehandlung für die Ukraine aufgrund des Krieges geben wird. Im Rahmen der EU-Dimension auf der diesjährigen Ukraine Wiederaufbaukonferenz (URC) am 11./12. Juni in Berlin wurde unterstrichen, wie wichtig der Zusammenhang zwischen EU-Integration und Wiederaufbau ist. Grundlegende Reformen im Kontext der Beitrittsverhandlungen können zu mehr Investitionen führen. Gleichzeitig wird es ohne dauerhafte Sicherheit für die Ukraine sehr schwer werden, die EU-Integration und den umfassenden Wiederaufbau erfolgreich voranzutreiben.

Hintergrund

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 hat die EU die Ukraine mit ca. 100 Mrd. EUR in verschiedenen Instrumenten unterstützt. Das Finanzinstrument für 2024 bis 2027, die Ukraine Fazilität, soll 50 Mrd. EUR für den Staatshaushalt, für private Investitionen und für die Heranführung an die EU zur Verfügung stellen. Dabei fließen dreiviertel der Summe für laufende Ausgaben in den Staatshaushalt und es bleiben für großangelegte Wiederaufbauprojekte defacto keine Mittel. Im Ukraine-Plan wird dargelegt, welche Reformen die ukrainische Regierung in den nächsten vier Jahren im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses in Bezug auf die Erholung, und die Modernisierung des Landes durchführen will.

Der Rat ist zu der Auffassung gelangt, dass die Ukraine mit diesem Plan die Voraussetzung dafür erfüllt, die im Rahmen der Ukraine-Fazilität geplante Unterstützung zu erhalten, sodass nun regelmäßige Zahlungen fließen können. Der Fortschritt der Implementierung des Ukraine-Plans wird Teil der Konditionalität im Rahmen des Beitrittsprozesses. Mit einer neuen Erweiterungsmethodologie reagiert die Kommission auf Defizite in der Vergangenheit und macht Fragen von Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Verwaltungsreform zum Kernstück des Beitrittsprozesses. Auch aus Erfahrung hoher interner Widerstände gegen Korruptionsbekämpfung und Rechtsreformen, gilt die besondere Aufmerksamkeit der Kommission rechtsstaatlichen Reformen, Korruptionsbekämpfung sowie dem Schutz nationaler Minderheiten. Fortschritte in diesen grundlegenden Bereichen wird die Geschwindigkeit der Beitrittsverhandlungen bestimmen. Gleichzeitig macht der Rat deutlich, dass die Geschwindigkeit der Aufnahme neuer Mitglieder auch von der Kapazität der EU abhängt, diese zu absorbieren. Zwischen den Mitgliedsstaaten gibt es aktuell keine Einigkeit über interne Reformen u.a. bei den Abstimmungsregeln oder der Subventionierung des Agrarsektors, was ab einem bestimmten Punkt auch eine Auf-nahme der Ukraine blockieren könnte. Eine Veränderung der Verträge ist de-facto ausgeschlossen, alles unterhalb dieser Ebene wird in der Amtsperiode der neuen Kommission diskutiert werden.

„Fundamentals“ als Kern der Reformen

Auf Basis eines leistungsbasierten Ansatzes sollen die Verhandlungen über das Grundlagencluster („Fundamentals“) als erstes eröffnet und als letzte abgeschlossen werden.

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Zu den „Fundamentals“ zählen:

  • Rechtssystem und grundlegende Rechte
  • Justiz, Freiheiten, Sicherheit
  • Funktionieren der demokratischen Institutionen
  • Öffentliche Verwaltungsreform
  • Öffentliches Beschaffungswesen
  • Statistik
  • Finanzkontrolle

Im Rahmen eines Überprüfungsberichts wird die Kommission eine Roadmap für Rechtsstaatlichkeit und öffentliche Verwaltungsreform vorschlagen. Zusätzliche Richt-werte (Benchmarks) können in den Kapiteln zum öffentlichen Beschaffungswesen und der Finanzkontrolle ge-setzt werden. Die Ukraine wird aufgefordert eine Road-map für Rechtsstaatlichkeit sowie Gerichtswesen und grundlegende Rechte vorzubereiten. Weiterhin wird Kyjiw dazu eingeladen eine Roadmap für das Funktionieren demokratischer Institutionen sowie öffentliche Verwaltungsreformen vorzubereiten und zu beschließen. Es erfolgt ein Monitoring der Korruptionsbekämpfung inklusive der Ermittlungen und Verurteilungen durch die Justiz. Antikorruptionspolitik soll sich als Querschnittsthema durch alle relevanten Kapitel ziehen. Sowohl bei der Ausarbeitung von Roadmaps, beim Screening als auch beim Monitoring soll grundsätzlich die ukrainische Zivilgesellschaft einbezogen werden. Gleichzeitig wird die Regierung im Reformprozess aufgrund begrenzter Ressourcen in der Verwaltung auf die Unterstützung durch Think Tanks und die Zivilgesellschaft angewiesen sein.

EU-Dimension im Rahmen der Wiederaufbaukonferenz

Auf der URC im Juni in Berlin wurde neben der wirtschaftlichen, menschlichen und regionalen Dimension der EU-Beitritt als vierte wichtige Säule diskutiert. Dabei soll die EU-Integration wirtschaftliches Wachstum, Investitionssicherheit und nachhaltige Entwicklung garantieren. Ziel der Anpassung an den Besitzstand sind neben den genannten Aspekten der stabilen Institutionen, der Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, einer funktionierenden öffentliche Verwaltung, eine Annäherung an den Binnenmarkt. Dies sind alles auch Voraussetzungen für private Investitionen und einen nachhaltigen Wiederaufbau. Die Organisatoren der Konferenz haben großen Wert darauf gelegt, dass neben hochrangigen Vertretern der EU und Partnerländer, Wirtschaft und internationaler Finanzinstitutionen die Präsenz von Angehörigen der Zivilgesellschaft, Regionen und Stadtverwaltungen gesichert war. Ein zentrales Element, das in der EU-Dimension immer hervorgehoben wurde, ist die Unterstützung beim Capacity building ukrainischer Institutionen. Hierbei spielt die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle. Aus ukrainischer Sicht war die Konferenz bein Erfolg vor allem wegen der hohen Zahl an hochrangigen internationalen staatlichen Vertretern, auch im Vergleich zu vorherigen Wiederaufbaukonferenzen, und Unternehmen sowie der besonderen Aufmerksamkeit auf den Wiederaufbau auch in Zeiten des Krieges.

Die Einbindung der Zivilgesellschaft spiegelte die Bedeutung dieser sowohl mit Blick auf den EU-Beitritt als auch den Wiederaufbau wider. Da es auf absehbare Zeit keinen NATO-Beitritt der Ukraine geben wird, wie der NATO Gipfel in Washington unterstrich, ist es für die ukrainische Bevölkerung umso wichtiger, Fortschritte in der EU-Integration zu sehen. Die fehlende Perspektive auf ein baldiges Ende des Krieges wird zumindest durch die EU-Beitrittsperspektive etwas ausgeglichen. Bei vorherigen Beitrittswellen waren NATO- und EU Integration immer eng miteinander verknüpft. Die Teilnehmer der Konferenz stimmten darin überein, dass die EU-Integration ein zentrales Element für den Wiederaufbau ist, der zu regionaler Stabilität, Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit in Europa führen kann. Gleichzeitig wird es bei den Folgekonferenzen (kommendes Jahr in Italien) noch wichtiger sein, die Verbindung zwischen Sicherheit und Wiederaufbau herzustellen – ohne Sicherheit, kein nachhaltiger Wiederaufbau. Die Wiederaufbaukonferenz adressierte zu wenig die aktuell entscheidenden Themen für die Ukraine, wie Luftverteidigung, Sicherheit ihrer Städte und Infrastruktur sowie eine Perspektive für ein gerechtes Ende des Krieges. Solange diese Bedingungen nicht erfüllt sind, wird es nicht zu umfassenden privaten Investitionen kommen. Gleichzeitig schaffen die Reformen im Rahmen des Beitritts die Voraussetzungen für eine Verbesserung der Investitionsbedingungen und geben der Bevölkerung eine Perspektive in Europa.

Ausblick

Trotz eines schwierigen Kriegsjahres mit Gebietsverlusten aufgrund schleppender Waffen- und Munitionslieferungen aus dem Westen und einer zu späten Mobilisierung durch die ukrainische Regierung hat das Land erfolgreich seinen Reformprozess vorangetrieben und so den Weg frei gemacht für die formelle Aufnahme der Beitrittsverhandlungen. Mit der Eröffnung des Beitrittsprozess zeigt sich, dass trotz Krieg die Fortschritte enorm sind. Aufgrund des Krieges und der hohen Abhängigkeit der Ukraine von westlicher finanzieller und militärischer Unterstützung gab es noch nie in der neueren ukrainischen Geschichte solch eine Möglichkeit für die EU und die ukrainische Zivilgesellschaft so viel Druck auf die ukrainische Regierung auszuüben, dass es in den genannten schwierigen Bereichen grundlegende Reformen geben und strukturelle Widerstände überwunden werden können. Das ändert nichts daran, dass der Beitrittsprozess lange dauern wird und der Kriegsverlauf sowie die finanzielle Unterstützung durch den Westen maßgeblich über die Kapazitäten der ukrainischen Regierung im Reform- und Wiederaufbauprozess entscheiden wird. Angesichts der schwierigen Haushaltslage liegt der Fokus auf den Verteidigungsausgaben.

Die Mittel reichen nicht aus, um gleichzeitig großangelegte nachhaltige Wiederaufbauprojekte zu finanzieren.

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Dr. Stefan Meister ist Leiter des Zentrums für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien bei derDeutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Hinweis: Für diesen Text ist nur der Autor verantwortlich. Er
gibt nicht notwendigerweise die Meinung des German Economic
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