Ein Lastenausgleich für die Vertriebenen aus Berg-Karabach?
Mehr als 100.000 Menschen mussten Ende September 2023 nach einer Eskalation des Berg-Karabach Konflikts aus der von ethnischen Armeniern bewohnten Region fliehen. Sie konnten nur mitnehmen, was sie bei ihrer Flucht transportieren konnten, weitere Vermögenswerte sind unwiederbringlich verloren.
Die armenische Regierung half mit haushaltsfinanzierten Soforthilfen und stellte weitere Hilfsleistungen in den Staatshaushalt für 2024 ein. Es stellt sich die Frage, ob ein Lastenausgleich zwischen den armenischen Staatsbürgern und den Geflüchteten aus Berg-Karabach erfolgen soll und wie er auszugestalten wäre. Die Erfahrungen aus Lastenausgleichsregelungen in Deutschland und Finnland nach dem Zweiten Weltkrieg könnten bei den notwendigen Entscheidungen helfen.
Hintergrund
Die wiederholten Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschan und Armenien um das überwiegend von einer ethnisch armenischen Bevölkerung bewohnte Gebiet von Berg-Karabach endeten im September 2023 nach einem eintägigen Krieg mit dem faktischen Ende der international nicht anerkannten Republik Arzach, üblicherweise als Berg-Karabach bezeichnet. Die Verteidigungskräfte von Berg-Karabach hatten die Waffen niedergelegt und kapituliert. Als die Aserbaidschaner überraschend die Blockade Berg-Karabachs aufhoben, kam es zu einem Massenexodus der ethnisch armenischen Bevölkerung. Über 100.000 Menschen flüchteten nach Armenien. Sie konnten nur die Dinge mitnehmen, die sie bei ihrer Flucht transportieren konnten. Die Flüchtlinge verloren ihre Grundstücke und Häuser, ihr landwirtschaftlich genutztes Land, ihr Sach- und sonstiges Vermögen, ebenso wie ihr kulturelles Erbe.
Hilfsmaßnahmen der Republik Armenien
An der Gesamtbevölkerung Armeniens machen die Vertriebenen aus Berg-Karabach etwa 3,5% aus. Als die Flüchtlingswelle nach Armenien kam, wurden die Betroffenen registriert und auf das ganze Land verteilt. Sie erhielten Soforthilfe in einer Gesamthöhe von 38 Mrd. AMD (ca. 98 Mio. USD), verteilt auf 16 Hilfsprogramme. 75% der Ausgaben entfielen dabei auf 3 Programme: Finanzielle Soforthilfe, Wohnungs- und Haushaltsunterstützung, sowie Zahlungen für den Lebensunterhalt. Für 2024 sind substanzielle Fördermaßnahmen mit einem Volumen von 48,7 Mrd. AMD geplant (125,5 Mio. USD). Dabei handelt es sich um fortgeschriebene Maßnahmen aus 2023 und um neue Formen der Unterstützung, insbesondere Rentenzahlungen. Insgesamt werden sich die geplanten Maßnahmen auf ca. 1,6% der Haushaltsausgaben für 2024 belaufen.
Bisher hat Armenien alle Unterstützungsleistungen aus öffentlichen Mitteln finanziert. Es ist aber nicht sicher, ob Budgetmittel allein ausreichen, um aktuelle und vor allem zukünftig erforderliche Maßnahmen zu finanzieren. Daher stellt sich die Frage, ob außer Steuererhöhungen oder Kreditfinanzierungen auch eine innergesellschaftliche Umverteilung durch eine vom vermögenderen Teil der Bevölkerung zu erbringende Sonderlast zugunsten der Vertriebenen in Betracht kommt. Erfolgreiche Beispiele für einen Lastenausgleich hat es historisch gegeben.
Lastenausgleich: Innergesellschaftliche Umverteilung
Von seinem Grundgedanken her geht es beim Lastenausgleich darum, die materiellen Folgen von Krieg und Vertreibung zu regeln. Ihm liegt ein Bekenntnis der Solidarität mit den Geschädigten zugrunde. Diejenigen, deren Vermögen und deren wirtschaftliche Existenz durch den Krieg keine oder nur geringe Einbußen erlitten hat, sollen die materiellen Lasten derjenigen ausgleichen, die fast alles verloren haben. Aus dem 20. Jahrhundert gibt es zwei Beispiele für erfolgreiche Fälle von Lastenausgleich: Bundesrepublik Deutschland und Finnland.
Beispiel der Bundesrepublik Deutschland
Das umfangreichste Lastenausgleichssystem wurde in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt, mit dem Soforthilfegesetz von 1949 und ab 1952 mit dem Lastenausgleichsgesetz. Zu diesem Zweck wurde das Grundgesetz um den Art. 120a ergänzt, der den Aufbau einer Sonderverwaltung für den Lastenausgleich mit weitreichenden Kompetenzen regelt. Unter der damaligen Gesamtbevölkerung von etwa 50 Mio. Bürgern waren etwa 18 Mio. Vertriebene, Kriegsgeschädigte und Flüchtlinge. Auf der Leistungsseite gab es die sog. Hauptentschädigung, eine Entschädigung für verlorene Haushaltsgüter, Integrationsdarlehen (z.B. für Haus- oder Wohnungsbau und Schaffung von Arbeitsplätzen), Kriegsopferrenten, Wohnungsbaudarlehen, Härtefallentschädigungen und anderes. Die Finanzierung erfolgte durch eine Vermögensabgabe und zwei weitere Abgaben, die Hypothekengewinnabgabe und die Kreditgewinnabgabe, die im Zusammenhang mit der Währungsreform und der Einführung der Deutschen Mark standen. Die Vermögensabgabe belastete 50% des festgestellten Vermögens, wobei es vielfältige Ausnahmen und Freistellungen gab. Sie war in Vierteljahresraten über 30 Jahre zu leisten. Durch die beiden Gewinnabgaben sollten Gewinne durch die 10:1 Umstellung bestimmter Verbindlichkeiten abgeschöpft werden. Mit den drei Abgaben wurden etwa 37% der Gesamtausgaben von 145 Mrd. DEM finanziert. Hinzu kamen Steuern, Zuschüsse der Bundesländer und Kredite.
Zur Durchführung des Lastenausgleichs wurden für die Finanzierungsseite die Finanzämter genutzt, für die Leistungsseite die regionalen und kommunalen Ausgleichsämter mit dem Bundesausgleichsamt an der Spitze. In ca. 600 Ausgleichsämtern waren zeitweilig bis zu 25.000 Mitarbeiter beschäftigt.
Erfahrungen aus Finnland
In Finnland gab es zwei Fälle von Lastenausgleichen: 1940 und 1945. Von der Besetzung Kareliens durch die Sowjetunion 1940 waren über 400.000 Menschen betroffen (12% der finnischen Bevölkerung), die in das nicht besetzte Finnland flüchteten und entschädigt wurden. Nach der Rückeroberung von Karelien kehrten die meisten Betroffenen in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete zurück, um dann, nach einem Friedensabkommen zwischen Finnland und der UdSSR, diese Gebiete erneut verlassen zu müssen. Da die meisten Vertriebenen aus der Landwirtschaft kamen, konnte auch die Entschädigung vielfach in Form von Land erfolgen. Dafür wurden staatliches Land und staatlicher Wald bereitgestellt. Auch private Landbesitzer mussten gewisse Flächen abgeben. Personen mit sonstigem Vermögen leisteten eine Vermögensabgabe, die in 5 Jahresraten zu zahlen war. Die finanzielle Unterstützung bestand in einer Soforthilfe und einer Zahlung in Form von zehnjährigen Staatsanleihen. Auch ein Staatsfonds wurde gebildet, in den Privatunternehmen Bonus-Aktien einbringen mussten und der Anteilsscheine an Vertriebene ausgab.
Wesentliche Erkenntnisse aus dem Lastenausgleich
Ein Lastenausgleich setzt bestimmte Umstände voraus, um erfolgreich sein zu können:
- Generelle Akzeptanz der Bevölkerung für eine solidarische Umverteilung von Vermögen
- Entschädigung (nur) für finanzielle und Vermögensschäden
- Breite gesellschaftliche Verteilung der Zahlungslast und keine übermäßige Belastung der Zahlungspflichtigen
- Integration der Vertriebenen als Hauptziel der Maßnahmen (neben der Entschädigung)
Nichts kann ein Lastenausgleichsystem aber besser unterstützen als starkes wirtschaftliches Wachstum.
Lastenausgleich: Ein Beispiel für Armenien?
Eine besonders wichtige Komponente des Lastenausgleichs ist die Schaffung von Zukunftsperspektiven. Die armenische Bevölkerung und die Vertriebenen aus Berg-Karabach müssen die Zukunft Armeniens gemeinsam gestalten wollen. Dafür kommt es besonders auf die Schaffung von Arbeitsplätzen an. Jobs stützen die wirtschaftliche Entwicklung und reduzieren die Sorge, die Vertriebenen könnten der örtlichen Bevölkerung die Arbeitsplätze wegnehmen. Wohnungsbauprogramme helfen, den Druck auf den Wohnungsmarkt abzubauen. Bildung ist ein wichtiges Element, um Zukunftsperspektiven zu schaffen.
Die Beispielsfälle Bundesrepublik Deutschland und Finnland zeigen, dass Lastenausgleich erfolgreich sein kann. Wenn die von den Zahlungspflichtigen zu tragenden Lasten nicht zu groß sind und die Solidarität in der Bevölkerung erhalten bleibt, kann der Lastenausgleich die Integration fördern und die öffentlichen Haushalte in substanzieller Weise schonen.
Ausblick
Ein Lastenausgleichssystem für Armenien muss den armenischen Bedürfnissen entsprechen. Bestehende Beispiele lassen sich nicht eins zu eins übernehmen. Das finnische System könnte hilfreich sein für Fragen der Entschädigung Land für Land, zumal auch Berg-Karabach landwirtschaftlich geprägt war. Das deutsche System passt als Orientierung gut auf der Leistungsseite und bei der Verwaltung. Auf der Finanzierungsseite ist das nicht in gleichem Maße der Fall, da wichtige Abgaben aus den Sonderbedingungen der deutschen Währungsreform resultierten und nicht übertragbar sind. Entscheidend für ein Lastenausgleichssystem in Armenien wird sein, ob dieses auf gesellschaftlichen Konsens stößt und den Vertriebenen aus Berg-Karabach eine Hoffnung spendende Zukunftsperspektive eröffnet. Wird dies als erzielbar angesehen, bieten sich die beschriebenen Systeme als erfolgreiche Beispiele an.
Hinweis: Für den Inhalt des Textes ist nur der Autor verantwortlich. Er gibt nicht notwendigerweise die Meinung des German Economic Teams wieder.