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Ilona Sologub, Natalia Shapoval

Die ukrainische Wirtschaft ein Jahr nach der Invasion

Seit dem 24. Februar 2022 greift Russland das gesamte Staatsgebiet der Ukraine an. Aktuell sind etwa 18% der Landesfläche besetzt und Millionen Menschen sind unter Beschuss. Nach einem Jahr der Invasion werden etwa 5,3 Mio. Binnenvertriebene gezählt und über 8 Mio. sind aus der Ukraine geflohen. Im Oktober 2022 begann Russland, die ukrainische Energieinfrastruktur ins Visier zu nehmen, und das größte Atomkraftwerk Europas, AKW Zaporizhzhya, ist weiterhin besetzt und vom ukrainischen Stromnetz abgeschnitten. Während die Ukraine vorher über ausreichende Erzeugungskapazitäten verfügte und Strom exportierte, leidet sie nun regelmäßig unter Energieknappheit. Die Blockade der ukrainischen Häfen durch Russland beschränkt den wichtigsten Handelsweg und trug zur weltweiten Nahrungsmittelkrise bei.

  • Ukraine
NL 172 | Februar 2023
Makroökonomische Analysen und Prognosen

Als Resultat ging 2022 die ukrainische Wirtschaftsleistung um ca. 30% zum Vorjahr zurück. Dieser Rückgang ist jedoch geringer als in den ersten Monaten erwartet. Dank umsichtiger wirtschaftlicher Unterstützungsmaßnahmen seitens des Staates und internationaler Partner konnte die Lage besser als erwartet bewältigt werden. Diese Unterstützung muss auch 2023 aufrechterhalten werden.

Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft

Nach Schätzungen der ukrainischen Behörden ging das BIP 2022 um 30,3% zum Vorjahr zurück und die Arbeitslosigkeit stieg von etwa 10% Ende 2021 auf etwa 30% Ende 2022. Die Inflation erreichte im Dezember 2022 26,6% zum Vorjahr. Das Einfrieren der Tarife für Privathaushalte, die Migration und Kapitalverkehrskontrollen dämpften die Inflation, während hohe Energiepreise, unterbrochene Lieferketten, Wechselkursabwertungen und der Kauf von Staatsanleihen durch die NBU die Preise in die Höhe trieben. Nach dem ersten Schock erholte sich die Wirtschaft leicht: Die Industrieproduktion fiel im März 2022 um 54% zum Vorjahr, stabilisierte sich aber im September bei -40%. Nach 9 Monaten 2022 lag sie um 35% unter dem Niveau von 9M2021. Die Zahlen für das Gesamtjahr werden jedoch wahrscheinlich schlechter ausfallen, da im Oktober schwere russische Angriffe auf die Energieinfrastruktur begonnen haben. Die massiven Unterbrechungen der Wirtschaftstätigkeit und Migration führten zu geringeren Steuereinnahmen, während der Bedarf zur Finanzierung der Verteidigungsausgaben stark anstieg. So wuchs das Haushaltsdefizit 2022 auf ca. 1.300 Mrd. UAH (ca. 39 Mrd. USD), d.h. ca. 26% des BIP (ohne Berücksichtigung von Zuschüssen). In diesem Zusammenhang war und ist die finanzielle Unterstützung durch Partnerländer und internationale Organisationen essenziell. Die Ukraine erhielt 39 Mrd. USD an externer Finanzhilfe 2022, davon 43% in Form von Zuschüssen. Für 2023 ist der Bedarf in etwa gleich hoch. Die EU hat eine erste Auszahlung ihres Kreditprogramm über insgesamt 18 Mrd. EUR zur Verfügung gestellt.

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Weitere Auszahlungen sind von Fortschritten in der Reformumsetzung abhängig. Die Ukraine erwartet weitere 10 Mrd. USD im Rahmen eines IWF-Programms, 10 Mrd. USD von den USA und den Rest von anderen Gebern. Darüber hinaus ist die Zahlungsbilanz aufgrund Russlands Blockade und Besetzung der Seehäfen unter Druck geraten. Während das Getreideabkommen den Export von Agrar- und Lebensmittelprodukten über dem Seeweg zulässt, sind Industriegüter davon ausgeschlossen. Ihre Exporte sind auf den physisch eingeschränkten Schienen- oder Straßentransport angewiesen. Importe sind weniger stark zurückgegangen, was auf die als kritisch deklarierten Importe von Ausrüstungsgütern für die Verteidigung und von Energieträgern aufgrund der Zerstörung von Raffinerien und des Stromnetzes zurückzuführen ist. Das Handelsdefizit betrug 23,8 Mrd. USD 2022 gegenüber 2,7 Mrd. USD 2021.

Entwicklungen der wichtigsten Sektoren

Der Großteil der regulären sektoralen Statistiken wird aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht. Einige Informationen lassen sich jedoch aus Erhebungen ableiten. Unternehmen im Dienstleistungssektor, vor allem die, die „remote“ arbeiten können, haben weniger gelitten. Für den Agrarsektor ergibt sich ein gemischtes Bild. Einerseits hat er von den Exportmöglichkeiten durch das Getreideabkommen profitiert. Andererseits wirken sich Verminung und unterbrochene Lieferketten negativ auf Ernte und Produktion aus. Der Montansektor war am stärksten betroffen. Die tägliche Stahlproduktion ist von etwa 60.000 Tonnen vor dem Krieg auf 10.000 Tonnen pro Tag zurückgegangen. Russlands Zerstörung und Besetzung von Mariupol und der ständige Beschuss von Werken in Zaporizhzhya und Krywyj Rih schränken die Produktionskapazitäten massiv ein. Die Erholung der Metallindustrie wird daher auch nach dem Krieg noch einige Zeit andauern.

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Anpassung und Resilienz der Wirtschaft

Die Regierung ergriff eine Reihe von Maßnahmen, um Unternehmen und ihre Arbeitskräfte zu unterstützen, u.a. bei der Verlagerung von Unternehmen durch Pauschalzahlungen und erweiterten Zugang zu günstigen Finanzierungen im Rahmen des 5-7-9-Programms, das zwischen Februar und Dezember 2022 in Höhe von 2 Mrd. USD in Anspruch genommen wurde. Außerdem werden die Maßnahmen zur Unterstützung von Binnenvertriebenen fortgesetzt. Im März 2022 beschloss das Parlament eine umfangreiche Steuersenkung, die im Juli teilweise rückgängig gemacht wurde, um Staatseinnahmen zu erhöhen. Unmittelbar nach der Invasion fixierte die Nationalbank den Wechselkurs und führte Kapitalkontrollen ein, um Kapitalflucht zu verhindern. Das Parlament erlaubte ihr, die Regierung während des Krieges direkt zu finanzieren. Die Regierung plant jedoch, 2023 nicht mehr auf dieses Instrument zurückzugreifen. Um die Inflation einzudämmen und die Wechselkurserwartungen zu stabilisieren, hat die NBU ihren Leitzins im Juni auf 25% p.a. angehoben. Neben der finanziellen Unterstützung erklärten sich die Partnerländer der Ukraine bereit, die Rückzahlung bilateraler Schulden bis 2024 auszusetzen, leisteten einen Beitrag zum Getreideabkommen und die EU eröffnete „Solidaritätskorridore“ zur Unterstützung ukrainischer Exporte. Es hat sich gezeigt, dass vergangene Reformen eine wichtige Rolle für die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft gespielt haben. Ein gut beaufsichtigter und kapitalisierter Bankensektor war entscheidend für das Vertrauen der Haushalte und Unternehmen. Der ukrainische IT-Sektor hat die Digitalisierung dieses Sektors und der Gesamtwirtschaft unterstützt. Menschen, die gezwungen waren, das Land zu verlassen, erhalten weiterhin finanzielle und staatliche Dienstleistungen aus der Ukraine. In den letzten Jahren hat der IT-Sektor begonnen, einen wichtigen Beitrag zu den Exporten zu leisten und könnte nach dem Krieg zu einem der Wachstumsmotoren werden. Darüber hinaus hat die Ukraine kurz vor dem Krieg die Synchronisierung ihres Stromnetzes mit der EU abgeschlossen. Dieser Schritt ermöglichte es, in den ersten Kriegsmonaten Exporteinnahmen zu erzielen, und sichert nun den Stromimport aus der EU, seit Russland begonnen hat, die Energieinfrastruktur gezielt anzugreifen. Weitere institutionelle Reformen und die Unterstützung durch die Bevölkerung wurden durch den EU-Kandidatenstatus im Juni 2022 honoriert. Diese Widerstandsfähigkeit und dieser Schritt der EU schaffen wichtige Anreize, um auf diesem Reformkurs zu bleiben, trotz des umfassenden Krieges.

Ausblick

Ursprünglich wurde erwartet, dass der Krieg schnell enden würde. Die Unsicherheit während des Krieges ist groß. Aber selbst wenn der Krieg morgen endet, wird die Erholung der Wirtschaft nicht schnell einsetzen. Um sich zu erholen, wird die Ukraine enorme Investitionen in Sach- und Humankapital benötigen. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, das Land unter neuen Aspekten aufzubauen – zum Beispiel den Energiesektor umweltfreundlicher und die Produktion effizienter zu machen. Es ist wichtig, alle Aspekte des Wiederaufbaus bereits jetzt zu erörtern, damit ein umfassender Plan bereitsteht, wenn der Krieg endet. Gleichzeitig müssen sich die Ukraine und ihre internationalen Partner jetzt auf die Widerstandsfähigkeit konzentrieren, da die Ziele Russlands unverändert bleiben. Um zu siegen, braucht die Ukraine alle Unterstützung, die ihre Verbündeten leisten können, vor allem in Form von Waffen und Finanzhilfen.

Ilona Sologub ist wissenschaftliche Herausgeberin bei VoxUkraine.

Natalia Shapoval ist Vorsitzende des Kyiv School of Economics Instituts, Vize-Präsidentin für Politikforschung. Sie ist Mitglied des Beraterstabs des Exzellenzzentrums im Beschaffungswesens und im Herausgeberrat bei VoxUkraine.

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Der Inhalt liegt in der alleinigen Verantwortung der Autorinnen und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung des German Economic Team wider.