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Anna Derevyanko

Der ukrainische Unternehmenssektor: Krieg als Marathon

Russlands Invasion der Ukraine ist in erster Linie eine humanitäre Tragödie. Aber auch die wirtschaftlichen Konsequenzen sind für Gesellschaft und Unternehmen einschneidend.

  • Ukraine
NL 164 | Juni 2022
Entwicklung des Privatsektors

Um die Implikationen des Krieges auf den Unternehmenssektor der Ukraine zu analysieren, veröffentlichte die European Business Association Ukraine (EBA) eine monatliche Umfrage unter Kapitalgesellschaften, die Mitglieder des Verbandes sind, sowie Personengesellschaften, die am Projekt ‚Unlimit Ukraine‘ teilnehmen. Ende Januar hatten sich nur etwa 40% der Kapitalgesellschaften für den Fall eines russischen Angriffs vorbereitet. Die Mehrheit musste sich jedoch seit dem 24. Februar schnell an die Realität anpassen. Im ersten Kriegsmonat berichteten 29% der befragten Kapitalgesellschaften, dass sie ihre Aktivitäten vollständig einstellen mussten. Seitdem hat sich die Lage im Sektor langsam, aber sicher stabilisiert. Allerdings arbeiteten im Mai mehr als die Hälfte der befragten Unternehmen weiterhin unter Einschränkungen. Auch die finanzielle Verfassung vieler Unternehmen ist angespannt, und zehrt an den verfügbaren finanziellen Reserven.

EBA Unternehmensumfrage

Russland begann seine Invasion der Ukraine am 24. Februar. Menschen verloren ihr Leben, mussten fliehen und auch der Arbeitsalltag ist nachhaltig gestört. Diese Tragödien setzen auch dem Unternehmenssektor zu. Mit dem Ziel, die Auswirkungen auf den Sektor zu monitoren und
zu quantifizieren, etablierte die EBA schnell eine monatliche Umfrage unter Kapital- und Personengesellschaften. Insbesondere im ersten Monat der Invasion wurden die Umfrageergebnisse häufig zitiert.

Jeden Monat befragt die EBA mindestens 100 Vorstandsvorsitzende von Kapitalgesellschaften, die Mitglieder im Verband sind und zusätzlich über 150 Personengesellschaften, die am EBA Projekt „Unlimit Ukraine“ teilnehmen. Die Fragen zielen ab auf die Entwicklung der Unternehmensaktivitäten, die Finanzlage sowie die Erwartungen für die zukünftigen Aktivitäten. Die Umfrageergebnisse sind monatlich vergleichbar. Zwar ist die Umfrage aus wissenschaftlicher Perspektive nicht repräsentativ, dennoch präsentiert sie einen fokussierten Blick auf den Unternehmenssektor der Ukraine.

Unternehmensaktivitäten werden fortgesetzt

100 Tage nach dem Beginn der Invasion nehmen Unternehmen ihre Aktivitäten langsam, aber sicher wieder auf. Die Anzahl der Kapitalgesellschaften, die unter Vollauslastung arbeitet, stieg von 17% im März und 28% im April auf 47% im Mai. Weiterhin berichteten jedoch mehr als die Hälfte von Beschränkungen. Der Anteil der Unternehmen, die ihren Betrieb aussetzen mussten, ging von 29% im März auf 4% im April und 3% im Mai zurück. Personengesellschaften waren jedoch viel stärker betroffen und auch ihre Erholung ging langsamer voran.

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17% der Personengesellschaften waren im Mai nicht in der Lage ihren Betrieb fortzusetzen. Auch der Anteil der Personengesellschaften in Vollauslastung war mit einem Fünftel gering und nur 8 %-Pkt. höher als im März.

Beschäftigte werden unterstützt, Verluste sind hoch

Die Unternehmen wollen in der derzeitigen schwierigen Lage ihre Beschäftigten unterstützen. 63% der Kapitalgesellschaften setzten im Mai Gehaltszahlungen fort (54% im April und 63% im März). Außerdem unterstützten 47% der Kapitalgesellschaften Beschäftigte, die sich den
Streitkräften oder der Territorialverteidigung anschlossen und 25% überwiesen Zusatz- oder Vorauszahlungen oder unterstützten durch andere Instrumente, beispielweise bei der Flucht. Dieser Anteil fiel gegenüber März (45%). Allerdings nähern sich mehr Unternehmen der
Vollauslastung, deshalb wurden diese Instrumente als weniger relevant erachtet. Schließlich ist zu nennen, dass Beurlaubungen von nur 13% und Kündigungen von weniger als 10% der Kapitalgesellschaften durchgeführt wurden. Die Kapazitäten von Personengesellschaften zur Unterstützung von Beschäftigten verschlechterte sich währenddessen. Es zahlten 23% der Personengesellschaften laufende Gehaltskosten (25% im April, 27% im März) vollständig und 21% waren nicht mehr in der Lage die Gehaltszahlungen zu tätigen. Somit birgt die Beschäftigungspolitik für Personengesellschaften größere Schwierigkeiten als für Kapitalgesellschaften.

Begrenzte Unternehmensaktivitäten und gleichzeitig außergewöhnliche Unterstützung für die Beschäftigten spiegelten sich jedoch in gestiegenen Verlusten wider. Zusätzlich wurden laut der Kiew School of Economics bis zum 8. Juni Infrastrukturschäden von 104 Mrd. USD verzeichnet, 11% davon sind Industrie- und Unternehmensaktiva.

Während 34% der Kapitalgesellschaften im März Verluste von über 1 Mio. USD berichteten, waren dies knapp 50% im April und Mai. Gleichzeitig fiel der Anteil der Unternehmen, die weniger als 0,5 Mio. USD an Verlusten verzeichneten. Insgesamt änderte sich die Verteilung hin zu größeren Verlusten.

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Eine ähnliche Entwicklung war bei Personengesellschaften zu sehen.

Die hohen Verluste zehren natürlich an den Finanzreserven der Unternehmen, die darunter leiden. Jedoch sind die Finanzreserven bei Kapitalgesellschaften höher als bei Personengesellschaften. Während nur 5% der Kapitalgesellschaften berichteten, dass die eigenen Finanzreserven im Mai vollständig aufgebraucht wurden, waren es 29% bei den Personengesellschaften. Insgesamt waren bei 79% der Kapitalgesellschaften Reserven für weniger als ein Jahr vorhanden, bei Personengesellschaften war dies bei 87% der Fall.

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Trotz der schwierigen Lage müssen Unternehmen Wege finden, um sich anzupassen, da der Krieg andauert. Prognosen sind großer Unsicherheit ausgesetzt, jedoch schätzten 70% der Vorstandsvorsitzenden von Kapitalgesellschaften, dass der Unternehmensbetrieb sich zum Jahresende weiter verschlechtert, während 15% keine Veränderung erwarteten. Somit ist ein langer Atem notwendig. Dabei erwarteten vor dem Krieg 83% der Kapitalgesellschaften Wachstum für 2022 und nur 2% Verluste. Also führte der Krieg in einer deutlichen Mehrheit der Unternehmen zu notwendigen Anpassungen.

Ausblick

In der Ukraine ist eine Rückkehr zum ‘business as usual’ auf absehbare Zeit nicht vorstellbar. Der Unternehmenssektor tut alles Mögliche, um sich der Lage anzupassen und Prozesse zu erneuern, obwohl sich diese Herausforderung als schwierig erweist, da Produktion und Lieferketten unterbrochen wurden, Schäden an Unternehmensaktiva auftraten, häufig die Flucht der Mitarbeiter notwendig war und verbliebene Beschäftigte unterstützt wurden.

Trotz dieser Schwierigkeiten versuchen die Unternehmen ein neues Gleichgewicht zu finden, und dieses bis zum Kriegsende durchzuhalten. Gleichzeitig denken die Unternehmen schon an die Phase des Wiederaufbaus. Laut der EBA sind 67% der Kapitalgesellschaften bereit am Wiederaufbau mitzuwirken. Zu diesem Zweck wurde bereits ein Ausschuss für Wiederaufbau innerhalb der EBA etabliert. Dieser soll sich auf die Entwicklung von Prioritäten fokussieren und rechtliche Rahmenbedingungen schaffen. Unter Berücksichtigung der derzeitigen Schwierigkeiten werden weitere zusätzliche Aufwendungen in der Wiederaufbauphase bei den Unternehmen jedoch einen langen Atem erfordern, wie man ihn für einen Marathon braucht.

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