Der belarussische Energiesektor: Strategie oder Stagnation?
Trotz einer Erholung der Stromnachfrage und der Fertigstellung des Kernkraftwerks in Astravets bleibt der Energiesektor stark von Importen aus Russland abhängig. Die Inbetriebnahme eines zweiten Reaktors im Jahr 2023 hat zu einer deutlichen Veränderung im Strommix geführt: Der Anteil thermischer Kraftwerke reduzierte sich, gleichzeitig verstärkte sich die Abhängigkeit von russischem Kernbrennstoff weiter.
Der Stromverbrauch stieg 2023 und 2024 an – getrieben durch staatlich initiierte Elektrifizierungsmaßnahmen sowie durch vertiefte Handelsverflechtung mit Russland. Das Energiesystem bleibt geprägt von Staatseigentum, subventionierten Tarifen und nur begrenzten Fortschritten bei Erneuerbaren und Energieeffizienz.
Governance und Eigentumsstruktur im Energiesektor
Der Sektor ist weiterhin stark zentralisiert: Staatliche, vertikal integrierte Unternehmen dominieren nahezu alle Stufen der Wertschöpfungskette – von der Erzeugung bis zur Verteilung. Das Energieministerium überwacht diese Unternehmen und das Tarifsystem ist nach wie vor durch staatliche Vorgaben geprägt. Private Haushalte werden subventioniert und die Tarife liegen deutlich unterhalb der Kostendeckung. Zwar ist die Abteilung für Energieeffizienz formal außerhalb des Ministeriums angesiedelt, verfügt politisch jedoch kaum über Gestaltungsspielräume. Die Kontrolle über das Gastransportsystem liegt weiterhin bei Russlands Gazprom, was die externe Einflussnahme zusätzlich verstärkt.
Primär- und Endenergieverbrauch
Belarus importiert nach wie vor nahezu seine gesamte Primärenergie – darunter 99% des Erdgases und 90% des Rohöls – aus Russland. Die inländische Energieerzeugung bleibt mit lediglich 6,3 Mio. Tonnen Öläquivalent (Mtoe) minimal, während die Energieimporte mit 31 Mtoe sogar das gesamte inländische Primärenergieangebot übersteigen. Grund hierfür ist die umfangreiche Raffinerieindustrie, die zusätzliches Rohöl für den Re-Export verarbeitet. Der Endenergieverbrauch wird weiterhin vom Wärmebedarf privater Haushalte dominiert, wobei Wärme und Erdgas die Hauptenergieträger darstellen. Der Stromverbrauch stieg 2024 um 6% zum Vorjahr, nachdem er 2022 infolge von Sanktionen, wirtschaftlicher Abschwächung und Bevölkerungsabwanderung kurzzeitig rückläufig war. Der Anstieg ist auf staatlich geförderte Elektrifizierungsmaßnahmen im Haushalts- und Verkehrsbereich zurückzuführen – etwa durch die Installation elektrischer Heizkessel und Anreize bei den Stromtarifen. Dennoch bleibt der Endenergieverbrauch stark fossil geprägt: Mineralölprodukte (29%), Wärme (27%) und Erdgas (22%) dominieren.
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Gas- und Ölversorgungsketten
Belarus deckt 99% seines Erdgasbedarfs durch Importe aus Russland, zum langfristig vereinbarten Preis von 128,5 USD pro Tsd. m³, ab. Die Regierung strebt jedoch die Schaffung eines einheitlichen Gasmarkts mit Russland an, was den Preis auf etwa 70 USD pro Tsd. m³ senken würde. Rund 40% des Gasbedarfes werden zur Wärmeversorgung privater Haushalte verwendet, 20% in der Industrie und etwa 30% als Rohstoff in der petrochemischen Industrie. Die Abhängigkeit von Öl ist ähnlich ausgeprägt. Zwei staatliche Raffinerien – Mazyr und Naftan – mit einer Gesamtkapazität von 19 Mio. Tonnen p.a. verarbeiteten 2023 infolge der EU-Sanktionen nur etwa 14 Mio. Tonnen Rohöl. Sämtliche Rohölimporte und über 90% der Exportprodukte wurden über russische Häfen umgeleitet. Der Preisnachlass auf russisches Rohöl brachte dem Staatshaushalt 2023 zwar geschätzte Mehreinnahmen von 1,9 Mrd. USD, verstärkte jedoch die Abhängigkeit von russischer Lieferung und Preisen.
Veränderter Strommix
Die Stromerzeugung stieg 2024 um fast 5% zum Vorjahr und erreichte 43,1 TWh. Der Anteil der Kernenergie stieg von 0% 2019 auf 36% an, was auf die Inbetriebnahme des zweiten Reaktors in Astravets zurückzuführen ist.
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Dies hat den Anteil gasbasierter thermischer Erzeugung deutlich reduziert (aktuell 54%), doch beide Erzeugungsarten bleiben vollständig auf Brennstoffimporte aus Russland angewiesen.
Herausforderungen des Netzsystems
Belarus ist weiterhin mit dem Integrierten Einheitlichen Energiesystem (IPS/UPS) synchronisiert, das von Russland betrieben wird. Mit dem Austritt der Ukraine (2022) und der baltischen Staaten (2025) zugunsten von ENTSO-E hat sich die Zahl regionaler Handelspartner deutlich reduziert. Zur Gewährleistung der Netzstabilität und des sicheren Betriebs des Kernkraftwerks Astravets wurde im März 2025 eine neue 330-kV-Leitung Lukoml GRES – Nowosokolniki nach Russland in Betrieb genommen. Dieses Projekt soll potenziellen Ausfällen durch den Wegfall der Synchronisation mit Nachbarsystemen entgegenwirken.
Die Inbetriebnahme der 330-kV Leitung hat jedoch nur begrenzte Auswirkungen auf den Stromhandel. Belarus und Russland haben kürzlich ein Abkommen über einen gemeinsamen Strommarkt unterzeichnet, doch angesichts geringer Nachfrage und niedriger Strompreise in Russland (3,8–5,6 Eurocent/kWh) dürften die Handelsvolumina gering bleiben. Das Abkommen ist daher derzeit eher aus regulatorischer und politischer Sicht relevant.
Die Integration des Kernkraftwerks hat zu hohen Ausgaben geführt: 1,8 Mrd. EUR für den Netzausbau sowie 105 Mio. EUR zur Abfederung der Desynchronisation der baltischen Staaten. Der geplanten Stilllegung von rund 1 GW Gaskraftwerkskapazität steht die Inbetriebnahme von 916 MW elektrischer Kessel für die Fernwärme gegenüber.
Erneuerbare Energien – ungenutztes Potenzial
Trotz erheblichem Potenzial bei Solar- und Biomasseenergie existiert bislang keine konkrete Strategie zur Ausweitung erneuerbarer Energien. Das Windpotenzial von bis zu 1.600 MW und das Solarpotenzial von 578 TWh p.a. bleiben weitgehend ungenutzt. Die Entwicklung erneuerbarer Energien beschränkt sich bislang fast ausschließlich auf den Wärmesektor; größere Projekte zur Stromerzeugung sind nicht geplant. Die Energiestrategie 2035 sieht einen moderaten Anstieg des Anteils inländischer und erneuerbarer Energiequellen an der Primärenergieversorgung auf 9% vor (heute 5%).
Stagnierende Fortschritte bei der Energieeffizienz
Nach deutlichen Verbesserungen in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren stagniert der Fortschritt. Die Wirtschaft bleibt energieintensiver als der weltweite Durchschnitt und als vergleichbare osteuropäische Länder.
Niedrige Preise und fehlende Anreize bremsen Fortschritte – insbesondere im Wohnsektor. Der Endverbrauch macht lediglich 70% des gesamten Energieangebots aus; die restlichen 30% gehen bei Umwandlungs- und Übertragungsverlusten verloren.
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Mit Blick auf Emissionen erlaubt das nationale Klimaziel (NDC) von Belarus einen Anstieg der Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 im Vergleich zum heutigen Niveau. Zwar sind die Emissionen des Energiesektors seit 1990 um 44% gesunken, der Großteil dieser Reduktionen fand jedoch vor dem Jahr 2000 statt – seither bleiben die absoluten Emissionen weitgehend stabil.
Ausblick: Strategie oder Stagnation?
Der Strombedarf dürfte weiter steigen, vor allem aufgrund zunehmender Elektrifizierung. Dieses Wachstum vollzieht sich jedoch in einem starren System, das durch geopolitische Entwicklungen, zentrale Planung und eine nahezu vollständige Abhängigkeit von russischen Importen geprägt ist. Die Inbetriebnahme weiterer Kernkraftwerksblöcke wird derzeit diskutiert, doch finanzielle und technologische Abhängigkeiten bergen langfristige strategische Risiken. Ohne gezielte politische Förderung dürften erneuerbare Energien weiterhin eine untergeordnete Rolle spielen. Nach dem Wegfall der westlichen und baltischen Stromverbindungen ist Russland nunmehr der einzige Strompartner, was die kommerzielle wie geopolitische Abhängigkeit weiter verstärkt. Die Energiepolitik von Belarus wirkt auf den ersten Blick stabil, sie ist jedoch im Kern rückwärtsgewandt und setzt auf Kontrolle und Stagnation anstelle von Diversifizierung und Nachhaltigkeit.
Dieser Newsletter basiert auf dem „Energiesektor Monitor“.